Europäische Liebeslyrik

(in deutscher Übersetzung)

Edward Charles Halle (1846-1914) - Die Musik

 


Ilia Tschawtschawadse (1837-1907)
georgischer Dichter


Ich sah die Teure, wie sie heisse Thränen
Um ihrer Liebe Missgeschick vergoss,
Wie ihre Lilienhand vom Schmerze zitternd
Ein halb verwelktes Röschen zart umschloss,
Und ich stand nah und schaute hin nach ihr,
Und weinte auch, denn ach, ihr Schmerz galt mir!

Nach Tagen sah ich dann die Teure wieder,
Ein frisches Röschen hielt sie in der Hand,
Von Wonne strahlten ihre schönen Augen,
Ein Lächeln sich dem süssen Mund entwand.
Und ich stand fern und schaute hin nach ihr,
Und weinte noch - ihr Glück galt ja nicht mir!
(S. 59-60)
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Gedenkst du, Teure, noch der Wonnetage,
Da harmlos wir in unserm Garten spielten
Und unbekannt mit jeder Herzensplage
Wie zwei Geschwister uns umschlungen hielten?

Nach Jahren, als wir wieder dort beisammen,
Gabst eine Rose du mir zum Geschenke,
In deinen Augen zuckten Liebesflammen,
Du sprachst: "Nimm hin und meiner stets gedenke!"

Nach Tagen, als wir wieder dort beisammen,
Sankst du mir an die Brust mit süssem Beben
Und ich, erwidernd deiner Liebe Flammen,
Hab zitternd dir den ersten Kuss gegeben.

O dachtest du, o dachten wir wohl beide
In jener himmelsüssen Wonnestunde,
Wie nah ich war dem schwersten Herzeleide,
Welch Gift ich sog aus deinem Rosenmunde?

Ach, dieser Kuss, so süss an jenem Tage,
Sollt bald zu Gift durch deinen Treubruch werden
Und dem bereiten schwere Herzensplage,
Der dich geliebt wie keiner hier auf Erden!
(S. 60-61)
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Die schlafende Jungfrau

Mit Wonne schau ich hin auf dich,
Die du dem süssen Schlaf ergeben,
Und Seligkeit empfinde ich,
Seh ich die weisse Brust sich regen.

Ich hör des Herzens Schlag, das mild
Und harmlos noch in Unschuld lebet.
Auf deiner Wang der Rose Bild,
Um deinen Mund in Lächeln schwebet.

Dein Schlaf, o Maid, ist süss und rein
Wie ein Gebet von heiligem Munde
Und eines Engels Fittigschein
Schützt dich in deiner Ruhestunde.

So rein wie du dein Atem ist,
So duftend wie des Frühlings Rosen!
O der, dem du beschieden bist,
Der wird mit einem Engel kosen!
(S. 61)
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O Maid, die du mich quälst, ich weiss,
Du bist bei weitem nicht so schön,
Dass sich gebannt in deinen Kreis
Gleich alle fühlten, die dich sehn.

Jedoch ein etwas ist in dir,
Das seligen Eindruck auf mich übt.
O jetzt begreif ich, dass es hier
Verwandtschaft unter Seelen giebt.
(S. 62)
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O überglücklich würde ich mich wähnen,
Wenn deine Liebe ganz der meinen glich
Und dir mit holder Scham und sanftem Sehnen
Ein einziges Geständniswort entwich!

O dürft' ich liebend dir ins Antlitz schauen,
Dein schönes Haupt sanft schmiegen an die Brust!
Ich würd' mich dich zu küssen nicht getrauen
Trotz des Verlangens nach so süsser Lust.

O dürfte ich mein Haupt ans Herz dir legen
Und lauschte seinem Pochen so mein Ohr,
Würd' sich in mir doch kein Verlangen regen,
Denn deine Unschuld schützte mich davor.
(S. 62)
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übersetzt von Arthur Leist (1852-1927)

Aus: Georgische Dichter
übersetzt von Arthur Leist
Neue, vielfach vermehrte Ausgabe
Dresden und Leipzig
E. Pierson's Verlag 1900




 

 


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