Johann Diederich Gries (1775-1842) - Liebesgedichte

Johann Diederich Gries (Scherenschnitt von Christian Friedrich Duttenhofer)



Johann Diederich Gries
(1775-1842)


Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 


 



Die leise Klage

Schon glühn vom letzten Abendscheine
Die dichtbelaubten Wipfel dort.
Ich irr' umher im stillen Haine
Und suche den geliebten Ort.
Doch Sie hat mich vergessen,
Die hier mit mir gesessen,
Und trauernd wandl' ich wieder fort.

Doch unwillkührlich lenkt sich wieder
Mein Fuss zu dem bemoosten Stein.
Hier tönten unsrer Liebe Lieder,
Und schweigend horchte rings der Hain.
Nun weil' ich hier im Sehnen,
Nun fliessen meine Thränen,
Denn ach! ich weile hier allein.

O du, die meine Thränen nennen,
Find' ich dich nimmer wieder hier?
Wirst ewig du mein Herz verkennen?
Führt deins dich nie zurück zu mir?
Die ich im Herzen trage,
Vergieb die leise Klage!
Sie führt mitleidig mich zu dir.
(S. 140)
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An Eleonore

Auch du entfliehst? So welkt die letzte Blüthe
Aus meines Frühlings bald verblichnem Kranz!
Der letzte Strahl des Morgenlichts verglühte,
Verschwunden ist sein himmelreiner Glanz.
Wohl ahndet' ich's mit zagendem Gemüthe;
Ich sah's vorher, und glaubt' es noch nicht ganz.
Jetzt muss ich's laut und lauter mir verkünden:
Mit dir wird auch mein letztes Glück entschwinden!

Ich bin gewöhnt an herber Trennung Leiden,
An manchen Schmerz ist meine Brust gewöhnt.
Ich sah sie einen nach dem andern scheiden,
Die holden Träume, die den Lenz verschönt;
Und konnte doch den süssen Wahn nicht meiden,
Und glaubte doch noch meinen Wunsch gekrönt.
Denn als die letzte Hoffnung schien verloren,
Da fand ich dich - und war wie neu geboren.

Da strahlte mir aus deinen holden Zügen
Wie eines neuen Morgens Anbeginn.
O, rief ich aus, wenn diese Blicke lügen,
Natur, so wardst du selbst zur Lügnerinn!
Wie liess ich mich so gern von dir besiegen,
Wie gab ich mich so ganz, so warm dir hin!
O thöricht Herz, verbirg was du empfunden;
Du gabst zu leicht, zu rasch dich überwunden!

Ja, was ich hatte, hab' ich dir gegeben;
Und o wie wenig gabst du mir zurück!
Dich zu gewinnen, war mein einzig Streben,
All' meine Wonne hing an deinem Blick.
Zur Herrinn macht' ich dich von meinem Leben,
In deine Hände legt' ich mein Geschick.
Mein eignes Seyn und Wollen war vernichtet,
In deine Brust mein ganzes Selbst geflüchtet.

Erst da ich nichts mehr hatte zu verlieren,
Ward ich's gewahr mit gränzenlosem Schmerz.
Ich glaubt' in dir ein menschlich Herz zu spüren,
Und deine Brust umgab ein dreifach Erz.
Zwar endlich schien mein Flehen dich zu rühren,
Du gabst aus Mitleid mir - ein halbes Herz.
Doch o wie karg vergalten diese Triebe
Des vollen Herzens ungetheilte Liebe!

O könnt' ich sagen nur von Einer Stunde,
Da war sie ganz und ohne Rückhalt mein,
Da schaut' ich in ihr Innres bis zum Grunde,
Da war's ihr Ernst, sich herzlich mir zu weihn!
Umsonst! So lange nährt' ich meine Wunde,
Und du verschmähtest, hülfreich mir zu seyn.
Denn selbst das Beste, was ich von dir habe,
War Göttergunst, nicht deine freie Gabe.

Wie die Natur in unbewusster Schöne
Den Blick erfreut, des Menschen Sinn belebt;
Wie Philomel' in willenlose Töne
Für unser Herz die süsse Wonne webt;
Und wie ein leblos Bild der Erdensöhne
Lebend'gen Geist erweitert und erhebt:
So hast auch du, hast ohne Wunsch und Wissen
Zum Theil ersetzt, was mir dein Will' entrissen.

Ein holder Genius standst du mir zur Seite
Und hemmtest meiner Stunden raschen Flug.
In deinem Lächeln, deinem Blick erneute
Mein Frühling sich mit lieblichem Betrug.
Ich sah nur dich, nicht in des Lebens Weite,
Sah nicht, wohin der Tage Lauf mich trug,
Und warf hinweg des Mittags bange Sorgen;
Mir strahlt aus deinem Blick ein ew'ger Morgen.

So viel verdankt' ich absichtsloser Milde,
Empfing so viel, dir selber unbewusst!
Mein Auge hing entzückt an deinem Bilde,
Und Himmelsahnung schwellte meine Brust.
O Seligkeit elysischer Gefilde,
O süsser Taumel unerschöpfter Lust,
Wenn diesen Reiz, der von den Göttern stammte,
Ein Funken nur von Mitgefühl durchflammte!

Allein du gehst, und wendest selbst im Scheiden
Nur halb und kalt den letzten Blick zu mir.
Du eilst hinweg zu tausend neuen Freuden,
Und einsam und verlassen bleib' ich hier.
Vergessen wirst du meine Lieb' und Leiden,
Und ach! mein tiefstes Sehnen folget dir.
Denn feste Treu, verschmäht auch und verlassen,
Vergessen kann sie nie und nimmer hassen.

Geliebte, nein! Bei allem, was mir theuer:
Mein Herz, wie sehr es bluten mag, vergiebt.
Nie wird's erlöschen dieses reine Feuer,
Eh nicht in Asche meine Brust zerstiebt.
Erkennen wirst du einst, dass wärmer, treuer
Dich nie ein Herz, als dieses Herz, geliebt,
Und dann vielleicht - zu spät für meine Thränen -
Vergebens dich nach dem Entschwundnen sehnen.
(S. 141-144)
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Vergeblicher Trost

Oft schon sagt' ich mir verwegen:
Waffne dir mit Erz die Brust,
Tritt dem Schicksal kühn entgegen;
Dulde, was du dulden musst.

Manches hast du ja ertragen,
Was nicht Jeder tragen kann;
Und du wolltest jetzt verzagen?
Fasse dich, und sey ein Mann!

Bleibt dir nicht im festen Herzen
Der Erinnrung holdes Glück?
Treue läutert sich in Schmerzen,
Trennung ist ein Augenblick. -

Aber aus dem wunden Herzen
Tönt es leise mir zurück:
Ewig sind der Trennung Schmerzen,
Augenblicke währt das Glück.

Ach, wie bitter ist Entsagen,
Wenn man einmal sich verwöhnt!
Lässt das Leben sich ertragen,
Wenn die Lieb' es nicht verschönt?
(S. 145)
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Nach der Trennung

Selbst in der letzten Abschiedschnelle
Hast du mit Blüthen mich erfreut.
Ich fand - kaum warst du von der Schwelle -
Den dürren Boden meiner Zelle
Mit Rosenblättern überstreut.
(S. 166)
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Unverhofftes Begegnen

Dank dir, freundliche Dryade,
Die den Wandrer ab vom Pfade
Lockt' in ihrer Schatten Nacht,
Dass er in der heil'gen Rinde
Den geliebten Namen finde,
Den sie treu für ihn bewacht.
(S. 166)
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Sonette

I.

Du eilst von Ort zu Ort, von Land zu Lande,
Nie ruhend hin mit leicht bewegtem Schritte,
Und denkst vielleicht, nach flücht'ger Wandrer Sitte,
Nicht mehr des Freunds im fernen Vaterlande.

Mich aber fesseln hier, am Felsenstrande
Des rauhem Stroms, in meiner stillen Hütte,
In des gewohnten Lebens stäter Mitte,
Mit herrischer Gewalt des Schicksals Bande.

Doch ob sie fest und fester mich umfassen,
Mein Geist vermag des Kerkers Wand zu spalten
Und bleibt dir nah, der Zeitgewalt zum Spotte.

So folgt auch sie, die Helios verlassen,
Als Blume noch, vom Boden fest gehalten,
Mit glüh'ndem Blick dem wandelbaren Gotte.
(S. 169)
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II.

Ihr grünen Hügel, weinbekränzte Höhen,
Ihr stillen Gründe, kühle Schattenhallen,
Du dunkler Hain, Wohnsitz der Nachtigallen,
Wo der Erinnrung Schauer mich umwehen;

Und du, o schöner Strom, der bald an jähen
Felswänden rauscht, und bald, mit lindem Wallen,
Die Erlen malt in flüssigen Krystallen:
Habt ihr mich je so einsam schon gesehen?

Wie einst, o Thal, mich deine Reiz' erquickten,
Als an der Seite mir der Einzigtheuern
So schnell entflohn die wonnevollen Stunden!

Doch ach! du blühst, du lächelst nur Beglückten;
Seit Trennungszähren dieses Aug' umschleiern,
Ist all' dein Reiz mit meinem Glück entschwunden.
(S. 170)
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III.

Aus Wolken neigt ein holdes Bild sich nieder,
Wenn früh im Ost Aurorens Strahlen blinken;
Und wenn der Sonne letzte Schimmer sinken,
Seh' ich's im Duft der Abendröthe wieder.

Und schwingt die Nacht ihr thauiges Gefieder,
Dann seh' ich's leis im Mondenschimmer winken;
Ich könnt' es fassen, will es mich bedünken,
Doch leicht entfliehn die wesenlosen Glieder.

Zu treues Bild! So schwand vor meinen Blicken
Sie, die mein Herz so ganz zu eigen hatte,
Die ach! so täuschend deine Züge malen.

Eh' ich's gewagt, sie an die Brust zu drücken,
Floh sie hinweg von mir, ein leichter Schatte,
Und liess mir nur der Sehnsucht ew'ge Qualen.
(S. 171)
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IV.

Wach' oder träum' ich? Hab' ich Sie gesehen?
Durft' ich des lang' entbehrten Blicks geniessen?
Als würd' in Luft das holde Bild zerfliessen,
So staunt' ich's an, als würd's ein Hauch verwehen.

Und soll ich noch nicht mein Gefühl gestehen?
Die Wonn' und Qual in meine Brust verschliessen?
Ich will, ich muss dies volle Herz ergiessen,
Und sollt' ich gleich verderben und vergehen.

Kannst du, o Thor! gebieten auch den Wogen,
Dass sie zurück zu ihrer Quelle strömen,
Der Flamme, dass sie nicht gen Himmel lodre?

Was menschlich ist, nicht was unmöglich, fodre!
Und länger nicht kann ich die Glut bezähmen,
Die, unbewusst, ich ihrem Aug' entsogen.
(S. 172)
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V.

Ich liebe dich und darf es dir nicht sagen,
Darf's wagen nicht, die Flammen zu bekennen,
Die tief im Innern meines Herzens brennen,
Mit stiller Glut an seinem Kerne nagen.

Ich mögte kühn um dich die Arme schlagen,
Vor aller Welt mein Eigenthum dich nennen;
Doch feindlich will des Schicksals Macht uns trennen,
Und mich ergreift unnennbar Weh und Zagen.

Kein Thränenstrom löscht diese wilden Flammen;
Und diesen Krieg in meiner Brust zu dämpfen,
Such' ich, zu sehr besiegt, umsonst die Waffen.

Vergeblich ist's, die Götter zu bekämpfen.
Ich fühl's, ich fühl's, du bist für mich geschaffen;
Doch welcher Gott führt endlich uns zusammen?
(S. 173)
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VI.

Ich weiss es wohl, hart ist's, auf fernen Auen
Verbannt von der Geliebten, einsam leben,
In nie gestillter Sehnsucht bänglich schweben
Und keinem Labsal, als im Tod, vertrauen.

Doch weiss ich eins, das mit noch tieferm Grauen
Das Herz ergreift, und, wie des Todes Beben,
Den Busen füllt mit ew'gem Widerstreben;
Dies: die Geliebte stets vor Augen schauen.

Sie schau'n, und nimmer herzlich sie umfangen,
Und nie: ich liebe dich! ihr sagen dürfen,
Nie einen Kuss auf ihre Lippen drücken;

Wie Tantalus, am Rand des Stromes hangen,
Und nie die heissersehnte Labung schlürfen,
Und nie dem Zweig die süsse Frucht entpflücken.
(S. 174)
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VII.

Mein Auge schweift umher, um dich zu finden;
Dich zu erschau'n, das ist sein einzig Hoffen.
Und dennoch bebt's, von deinem Blick getroffen,
Zaghaft zurück und will sich ihm entwinden.

Ich fühle rasch sich eine Glut entzünden,
Die mich verzehrt; denn wehrlos sind und offen
Mir Brust und Herz. So, zwischen Furcht und Hoffen,
Schweb' ich und beb', und alle Kräfte schwinden.

Und wie die Blume schmachtet auf den Auen,
Die Helios gewalt'ger Strahl verwundet,
Neig' ich das Haupt vor deinem Blicke nieder.

Doch Labung auch kann deinem Aug' entthauen;
Und wie die Blume, kaum benetzt, gesundet,
Hebt mich ein zweiter Blick zum Himmel wieder.
(S. 175)
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VIII.

Am frühen Morgen ist mein erstes Sinnen:
Werd' ich wohl heut die Vielgeliebte schauen?
Und schmeichelnd giebt mir Hoffnung das Vertrauen:
Du wirst, du wirst den süssen Lohn gewinnen.

Doch wie die Stunden nach und nach verrinnen,
Fasst Zweifel mich und Furcht und banges Grauen;
Am Fluss, im Walde streif' ich, auf den Auen,
Rastlos umher, als jagten mich Erinnen.

Und wie ein Reh, das vor des Jägers Pfeile
Voll Schrecken flieht und endlich, vor Ermatten,
Getödtet fast, hinsinkt in seiner Höhle:

So kehr' ich Abends, nach vergebner Eile,
In meiner Hütte freudenleere Schatten
Mit müdem Leib und mit zerrissner Seele.
(S. 176)
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IX.

Der letzte Glanz ist vom Gebirg' entschwunden;
Die Sterne sind am Himmel neu geboren,
Und leise tritt aus ihren dunkeln Thoren
Die Nacht hervor, geführt von holden Stunden.

Du träufelst Balsam in des Schmerzens Wunden,
O sey auch mir zur Trösterinn erkoren!
Schon wieder ging ein Tag für mich verloren,
Denn nirgend hab' ich die Geliebte funden.

Komm, holde Nacht, in deinen Schleier hülle
Den, der so oft dir seine Schmerzen klagte;
Lass deinen Fittig kühlend ihn umwehen.

Send' ihm des Schlummers labungsreiche Stille;
Und weil der Tag die Wirklichkeit versagte,
Lass ihn das theure Bild im Traume sehen.
(S. 177)
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X.

In dunkler Nacht, in einsam stiller Zelle
Sitz' ich und sinn' ob meinem tiefen Leide.
Wann bricht sie an, die neue Morgenhelle?
Wann ruft ein Tag zu längst entwohnter Freude?

Nein, wende dich hinab, du goldne Quelle
Des heitern Lichts! Du bist es, die ich meide.
Du darfst nicht schau'n, was mir den Busen schwelle,
Tob' im Gehirn und brenn' im Eingeweide.

O zwinge, Herz, die Lippe nicht, zu sprechen;
Denn nimmer darfst du mein Geheimniss zeigen,
Und müsstest du in dieser Stunde brechen.

Es muss mit dir hinab zum Orkus steigen;
Du nennst es Liebe, doch die Welt Verbrechen -
Geduld, mein Herz! Bald wird es leicht, zu schweigen.
(S. 178)
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XI.

Du hast gesiegt, Entschluss, es ist geschehen!
Entrissen hab' ich mich den theuern Blicken.
Ach! diesen Qualen, die mein Herz umstricken,
Vermogt' ich länger nicht zu widerstehen.

Ihr Götter, immer sie vor Augen sehen,
Sie, eures Himmels, eurer Erd' Entzücken!
O nehmt, darf nie mich ihre Huld beglücken,
Nehmt sie zurück - und lasst mich hier vergehen.

Feindsel'ge Pflicht, wie hart ist dein Versagen!
Doch bald, ich fühl' es, wird mein Herz sich rächen;
Ich floh mein Glück und wählte mein Verderben.

Denn immer muss ich zu mir selber sagen:
Sie lieben, ach! das nennen sie Verbrechen;
Doch sie verlieren, weh mir! das ist Sterben.
(S. 179)
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XII.

Die Ruhe hofft' ich wieder zu gewinnen,
Die meiner Brust, seit ich dich sah, entwunden;
Und ach! nun bist auch du mit ihr verschwunden.
Dir zu entfliehn - o thörichtes Beginnen!

Und eilt' ich bis an's fernste Meer von hinnen,
Am fernsten Meere würdst auch du gefunden.
An jedem Ort umschwebt, zu allen Stunden,
Dein Bildniss mich - ihm kann ich nicht entrinnen.

Und wenn ihr doch dem sehnenden Verlangen,
Ihr Sterne, nur dies einz'ge Labsal liesset!
Doch alles raubt ihr, was mich glücklich machte.

Wenn vor der Arme glühendem Umfangen
In leere Luft das theure Bild zerfliesset,
Dann fühl' ich zehnfach, dass ich einsam schmachte.
(S. 180)
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XIII.

Ich sahe sie; der Augen Strahlenschimmer
Schien wie ein Abglanz mir von höherm Leben.
Bewundrung musst' ich ihren Reizen geben;
Doch sagt' ich mir: Das ist die Liebe nimmer!

Ich hörte sie; entzückend, wie nur immer
Der Musen Lied, war ihrer Töne Schweben.
Ich fühlt' es tief im Herzen wiederbeben;
Doch sagt' ich mir: Das ist die Liebe nimmer!

Jetzt ist sie fern; und ach! an allen Tagen
Seh' ich den Blick, die himmlischen Geberden,
Hör' ich den Klang der Göttermelodieen.

Ich fühl' auf ewig mir die Ruh' entfliehen,
Mein Busen flammt, und immer muss ich sagen:
Ach! dies ist Liebe - oder keins auf Erden!
(S. 181)
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XIV.

Sie sollte mir ein Angedenken geben -
Die letzte Stunde war's von schönen Jahren -
Nimm eine Rose dir aus meinen Haaren!
Sie sprach's; der Ton wird ewig mich umschweben.

Vor Wonne fühlt' ich meine Hand erbeben,
Und lange wählt' ich in den bunten Schaaren,
Und konnte doch die Schönste nicht gewahren;
Der schönste Reiz schien jede zu umweben.

O zürne nicht, du Königinn der Rosen!
Dass ich gewagt, vom Thron dich zu vertreiben,
Der über alle Schwestern dich erhöhet.

Der Blüthe Reiz verweht wie Zephyrs Kosen.
Wärst du gewelkt, Sie hätte dich verschmähet;
Mir wirst du, auch verblüht, die schönste bleiben.
(S. 182)
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XV.

Ist mir ein Bild aus jener Welt erschienen?
Hat mich Begeistrung zum Olymp erhoben?
Ich sehe Sie, von Himmelsglanz umwoben,
Zu ihren Füssen Heil'ge, die ihr dienen.

Die Engelhuld in diesen sanften Mienen,
In diesem Blick der hehre Strahl von oben,
Die herrliche Gestalt, nie g'nug zu loben -
Sie ist's! Wer darf zu zweifeln sich erkühnen?

O Rafael, du hoffest nur vergebens,
Das Ideal, das dir zu solchem Bilde
Den Geist erhob, in Edens Flur zu schauen!

Gerührt vom Jammer dieses nicht'gen Lebens,
Stieg sie herab zum irdischen Gefilde;
Und wo sie weilt, blühn Paradiesesauen.
(S. 183)
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XVI.

Kaum mehr erkannt' ich meine Lieblingsstellen;
Erstorben lag die Flur, und von den kalten
Umarmungen des Winters festgehalten,
Erstarrten selbst des Flusses rasche Wellen.

Doch endlich löset Zephyrs Hauch die Quellen;
Ich sehe neu sich die Natur gestalten,
Und mit der Frühlingssonne lindem Walten
Blühn Veilchen, zwitschern Vögel, Knospen schwellen.

Ach! da, als meiner Liebe Melodieen
Noch Antwort nicht von der Natur empfingen,
Da fühlt' ich schon, wie scharf der Trennung Pfeile.

Wie soll ich jetzt denn ihrem Schooss entfliehen,
Da ihre tausend Arme mich umschlingen,
Und tausend Stimmen rufen: O verweile!
(S. 184)
_____



XVII.

So hat auch dich, o Sängerinn der Klagen!
Aus deiner Heimat blüthenvollem Haine
In diese Wildniss, wo ich einsam weine,
Dein leichter Flügel mitleidsvoll getragen?

Wie sanft an's Herz mir deine Töne schlagen!
Sie malen mir in seiner ganzen Reine
Das süsse Bild, beglänzt vom Wiederscheine
Des Abendlichts aus längst entschwunden Tagen.

So wecket oft in fernen Alpensöhnen
Des Hirtenhorns sehnsüchtiges Erschallen
Allmächt'gen Drang zum heimischen Gefilde.

Doch meiner Sehnsucht braucht kein Ruf zu tönen;
In meines Busens tiefgeheimsten Hallen
Lebst ewig du, o himmlisches Gebilde!
(S. 185)
_____

Aus: Gedichte und Poetische Übersetzungen
von J. D. Gries
Erstes Bändchen
Stuttgart Löfflund 1829
 


Biographie:

http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Diederich_Gries

 

 


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