Der Völker
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(Ausgewählte Gedichte)
 

(c) Angelika Wolter pixelio.de
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Victor Hugo
(1802-1885)


An die Geliebte

Weil mir dein voller Kelch die heißen Lippen kühlte,
Weil meine bleiche Stirn in deiner Hand geruht,
Weil ich den süßen Hauch von deiner Seele fühlte,
Der wie ein Weihrauch ist in dunkler Fluth.

Weil mir's gegeben ward, von dir die süßen Laute
Zu hören, drin das Herz sich aufschließt bis zum Grund,
Weil deine Thräne sanft auf meine Wimper thaute,
Weil ich mein Lächeln sah erblühn auf deinem Mund;

Weil auf mein Haupt ein Strahl in wundervollem Glanze
Von deinem Sterne fiel, der sein Gewölk durchbrach,
Weil ich ein Rosenblatt, aus deiner Tage Kranze
Entrissen, sinken sah in meines Lebens Bach:

So sprech' ich unverzagt zu den entflieh'nden Lenzen:
Zieht hin, zieht immer hin! Nicht altert dies Gemüth.
Wie Schatten schwindet fort mit eurem welken Kränzen!
In mir ist eine Kraft, die unvergänglich blüht.

Die Schale, die mich labt, ist stets zum Rand gefüllet,
Und nie zertrümmert sie der Flügelschlag der Zeit.
Mehr Feuer hat mein Geist, als ihr in Aschen hüllet,
Mehr Liebe hat mein Herz, als ihr Vergessenheit.

(Übersetzt von Emanuel Geibel 1815-1884)


 

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Literatur: Das Buch der Liebe
Eine Blütenlese aus der gesammten Liebeslyrik
aller Zeiten und Völker
In deutschen Uebertragungen
Herausgegeben von Heinrich Hart und Julius Hart
Zweite Auflage
Leipzig Verlag von Otto Wigand 1889 (S. 210)