Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Johann Franz Beyer (1767-1814)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209

 

Sammlung von Liedern der Liebe

Im Geschmacke Salomo's


An dessen Geist,
der diese Lieder sang

Sei mir gesegnet, Sänger zarter Triebe,
So oft von Heiligen entweiht,
Die kein Gesang von heisser Jugendliebe
Im kalten Alter freut!

Dein sanftes Lied - auf deutscher Leier Saiten
Sing' ich es meiner Nation;
So sang' auch einst der Liebe Seligkeiten
Gleim nach Anakreon.

Entehrt' ich dich auf ungeweihter Leier,
Dann horche mir kein menschlich Ohr!
Es glühe jeder Laut, ein strafend Feuer,
Mir meinen Frevel vor!

Doch wenn ich nur aus Irrthum fehlt', verzeihe!
Ob mir erzürn' dein Schatten nie!
Rein war mein Herz, wie deiner Liebe Treue;
Und darum sang ich sie!

 

Erstes Buch
Von Kap. I-II,7

I
(Kap. I,2-11)

"Die Mädchen, wenn sie gleich das Dorf erzogen hat,
Sind wie die Mädchen in der Stadt"
Gellert.

Das Mädchen
Ach, gäb' er mir nur seiner Küsse Einen!
Weit köstlicher ist deine Lieb' als Wein!
Wohlduft verbreiten deine Salben,
Dem ausgegossnen Balsam gleicht dein Name!
Drum lieben dich die Mädchen auch.
Zieh' mich dir nach!
Verdoppeln laß uns unsre Schritte!
Führt auch der König in sein Harem mich,
Wir freuten uns - frohlockten nur in dir!
Viel lieblicher, als Wein
Sind deine Gedanken deiner Liebe;
Die Gutgesinnten lieben dich. -

Schwarz bin ich zwar, doch anmuthsvoll,
Ihr Mädchen von Ierusalem!
Wie Kedarenen Zelte,
Wie Decken Salomo's.
Flieht meinen Anblick nicht,
Weil ich so schwärzlich bin,
Weil mich der Sonne Strahl versengt!
Ob mir erzürnten meine Brüder,
Sie machten mich zur Weinberghüterin,
Und meinen Weinberg -
O! - den hab' ich nicht bewahrt.

So sag' mir's doch,
Wo du, Geliebter, weidest,
Und deinen Mittagsschlummer schläfst?
Wozu soll ich den Heerden deiner Freunde folgen?


Der Jüngling
Wenn du's nicht weißt,
Der Frauen Reizendste!
So folge nur der Schaafe Spur,
Und weide deine Böckchen
Bei den Hirtenzelten. -

Mit Rossen, angespannt am Wagen Pharao's,
Vergleich ich, meine Traute, dich;
Schön in Ketten stehen deine Wangen,
Schön dein Hals in Perlenreih'n.
Aber goldne Spangen
Wollen wir dir machen,
Sie mit Silberpünktchen zieren.


II
(Kap. I, 12-17)


Das Mädchen
Indess der König im Gemach verweilet,
Gibt mir die Narde Wohlgeruch.
Ein Myrrensträuschen ist mein Lieber mir,
Das meinen Busen schmückt;
Eine Cyprus-Beere
Auf Engedi's Rebenhügeln.


Der Jüngling
Schön bist du, mein liebes Mädchen!
Aeugelst, Täubchen gleich!


Das Mädchen
Schön bist du, mein lieber Jüngling,
Und so angenehm!
Grün ist unsre Lagerstätte,
Unser Haus aus Zederbalken,
Wir lustwandeln unter Terebinten.


III
(Kap. II, 1-6)


Das Mädchen
Ich bin die Narzisse Saron's
Eine Lilie im Thal.


Der Jüngling
Wie die Lilie unter Dornen,
So mein Liebchen unter Mädchen!


Das Mädchen
Wie der Apfelbaum im Waldgehölze,
So mein Lieber unter Jünglingen!
Mir gefällt's in seinem Schatten,
Wo ich mich zur Ruhe setze,
Und mit seiner süssen Frucht
Meinen Gaumen labe.
Liebetrunken macht er mich,
Er besieget mich durch Liebe,
Stärkt mich doch durch frische Kräuter!
Labt mich mit des Obstbaums Früchten!
Denn die Liebe - macht mich krank. -
Ach! unter meinem Haupt! liegt seine Linke,
Mit der Rechten hält er mich umschlungen!


Schlummerlied
(Kap. II, 7)

Ich beschwör' euch,
Ihr Ierusalemitinnen!
Bei den Gazellen, bei den Rehen dieser Flur.
Machet sie nicht wach!
Weckt die Liebe nicht,
Bis es ihr von selbst gefällt!



Zweites Buch
Von Kap. II, 8 - III, 5

I
(Kap. II,8-17)

Stimme meines Trauten!
Siehe, ach! er kommt.
Ueber Berge sprang' er hin,
Sezte über Hügel;
Der Gazelle gleicht mein Trauter,
Einem jungen Hirsch.

Sieh', da stehet er
Hinter unsrer Wand,
Blicket durch die Jalousieen,
Schauet durch's Gegitter.

Mein Lieber ruft mir zu:
"Auf, mein Liebchen!
Meine Schöne, auf und komm'!
Denn der Winter ist vorüber.
Und der Regen hingeschwunden;
Blumen sieht man auf der Erde,
Und die Zeit der Lieder naht,
Und der Turteltaube Girren
Höret man auf unsrer Flur;
Der Feigenbaum würzt seine jungen Früchte,
Und die Rebenblüten duften,
Auf, mein Liebchen,
Meine Schöne, auf und komm'!
Meine Taub' in Felsenklüften,
In des Abhangs Höhle!
Laß mich schau'n dein Angesicht,
Laß mich hören deine Stimme!
Deine Stimme tönet lieblich,
Reizend ist dein Angesicht,
Darum fanget uns die Füchse,
Auch die kleinen Füchse fangt,
"Die den Rebenberg verheeren,
Der izt Blüten treibt!"
Mein Freund ist mein,
Und ich - ganz eigen dem,
Der unter Lilien weidet,
So lang' des Tags Kühlung währt's;
Doch wenn die Schatten weichen,
Dann kehre um, mein Trauter!
Und werde der Gazelle gleich,
Und wie ein junger Hirsch,
Der über Scheideberge eilt.


II
(Kap. III, 1-4)

Quis desiderio fit pudor aut modus
Tam cari capitis? (Horat)

Nachts auf meinem Ruhebette
Sucht' ich den ich zärtlich liebe,
Suchte nichts, als ihn;
Doch mein Suchen war vergebens.
Wohlan! (so dachte ich)
Mein Bett will ich verlassen,
Die Stadt will ich durchgehen,
Und den auf den Strassen,
Auf den Gassen suchen,
Den ich zärtlich liebe.
Und nun sucht' ich ihn,
Aber ach! vergebens.
Die Wächter fanden mich,
Als sie die Stadt durchstrichen;
"Sahet ihr ( so fragt' ich sie),
Sah't ihr meinen Lieben nicht?"
Kaum noch hatt' ich sie verlassen,
Als ich meinen Lieben fand.
Und nun halt' ich ihn,
Lasse ihn nicht wieder los.
Führe ihn in's Haus der Mutter,
Bringe ihn zu deren Zimmer,
Die einst mich zur Welt gebahr!


Schlummerlied
(Kap. II, 5)

Ich beschwör' euch,
Ihr Ierusalemitinnen!
Bei den Gazellen, bei den Rehen dieser Flur.
Machet sie nicht wach!
Weckt die Liebe nicht,
Bis es ihr von selbst gefällt!



Drittes Buch
Von Kap. III, 6 - V, 2

I
(Kap. III, 6 - IV, 5)

Wer ist's, der von der Ebne sich erhebet,
Wie säulengrader Rauch?
Der Myrrhen und des Weihrauchs Wohlgeruch,
Der alle Krämerwürze übertrift,
Verbreitet sie umher. -
Seht das Bette Salomo's!
Sechzig Starke stehen um es her
Aus den Tapfern Israels
Alle mit dem Schwert bewafnet,
Und des Krieges kundig,
Trägt's ein jeder an der Seite
Für der Nächte Schrecken.
Der König Salomo ließ dieses Bett sich machen
Aus Holz vom Libanon.
Silbern waren seine Säulen,
Das Gestelle war von Gold,
Purpurn war die Decke,
Und die Mitte schmückte die Geliebte
Aus den Mädchen seiner Königsstadt.

Gehet hin, Zionitinnen!
Seht den König Salomo
In dem Blumenkranze,
Den ihm seine Mutter wand
An dem Tag der Hochzeitfeier,
An dem Tag der Herzenswonne.
Schöner noch bist du, mein Liebchen!
Siehe! schön bist du.
Deine Augen wie ein Taubenpaar
Unter deinem Schleier;
Deine Locken gleich der Ziegenheerde,
Die am Berge Gilod ruht;
Deine Zähne wie die Schäflein nach der Schur,
Wenn sie aus der Schwemme steigen,
Alle Zwillinge gebährend,
Und nicht eins ist kinderlos;
Purpurfäden deine Lippen,
Deine Sprachorgane lieblich;
Wie der Riz an dem Granat,
Unter'm Schleier deine Wangen.
Dein Hals gleicht David's Thurm',
Zur Waffenburg errichtet:
An ihm hangen tausend Schilde,
Und der Helden Spiesse alle;
Deine Brüste zwo Gazellen,
Zwillinge von einer Mutter,
Unter Lilien weidend.


II
(Kap. IV, 6-11)

Bis sich der Tag abkühlet,
Und sich die Nacht zur Erde senkt,
Will ich zum Myrrhenberge,
Zum Weihrauchhügel geh'n.
(Da red' ich so mein Mädchen an:)
Ganz schön bist du, mein Liebchen!
Ganz fehlerlos bist du.
Komm' vom Libanon, o Braut!
Komm' vom Libanon!
Komm' und blicke von Amanas Gipfel,
Und von Senir's und von Hermon's,
Von dem Aufenthalt der Löwen
Und dem Leoparden Berge!

Mein Herz hast du verwundet,
Meine Schwester, meine Braut!
Du hast mein Herz verwundet
Mit einem deiner Blicke,
Mit einer Kett' an deinem Hals.
Wie schön ist deine Liebe,
Meine Schwester, meine Braut!
Wie lieblicher als Wein!
Und deiner Salben Wohlgeruch
Als alle Würze!
Ein Honigfluss sind deine Lippen, Traute!
Unter deiner Zung' ist Milch und Honig;
Der Geruch von deinen Kleidern
Gleicht dem Wohlduft Libanon's.


III
(Kap. IV, 12-V, 1)

Ein verschloss'ner Garten,
Meine Schwester, meine Braut!
Ein verschloss'ner Quell bist du,
Und ein Brunnen zugesiegelt.
Was du hervorbringst, ist ein Paradies
Von Granaten, mit gewürzter Frucht,
Mit Cypern und mit Narden.
Nardus, Crocus, Kann, Zinnamon,
Mit Weihrauchbäumen mancher Art;
Aloe und Myrrhen,
Nebst den trefflichsten Gewürzen; -
Gleich dem Gartenbrunnen du,
Gleich dem Quell lebend'ger Wasser,
Rieselnd von dem Libanon. -
Auf, o Nordwind!
Südwind fleuch,
Und durchwehe meinen Garten,
Der von Wurzen fließt.


Das Mädchen
So komm' mein Trauter nur in seinen Garten,
Und koste seine edle Frucht!


Der Jüngling
Ich komm' in meinen Garten,
Meine Schwester, meine Braut!
Dann pflück' ich meine Myrrhen
Und mein Gewürze ab;
Von meinem Manna ess' ich dann,
Und koste meinen Honig;
Dann trink' ich meinen Wein,
und trinke meine Milch.


Eine Stimme der Theilnehmung
(Kap. V, 1)

Esset, Traute, trinket,
Und berauschet euch, ihr Lieben!



Viertes Buch
Von Kap. V, 2 - VIII, 4

I
(Kap. V, 2 - VI, 3)

Ich schlief, da träumte mir
Von meines Trauten Stimme,
Als klopft' er an der Thür:
"Mach' mir auf, o Schwester!
Du mein Liebchen!
Meine Taube, meine Schöne!
Mein Haupt ist Thaubenezt,
Soll ich des Kleids entladen.
Auf's neue mich anzieh'n?
Die reingewaschne Füsse
Nun wieder schmutzig machen? -
Mein Trauter streckte drauf
Durch die Oefnung seine Hand,
Und mein Herz schlug' ihm entgegen.
Nun stand ich auf,
Dem Lieben aufzumachen:
Myrrhe rann von meinen Fingern
Auf des Schlosses Riegel.
Ich machte meinem Lieben auf;
Doch mein Lieber war dahin gewichen.
Ich folgt' ihm nach,
Und sucht' ihn auf,
Allein ich fand' ihn nicht:
Ich rief ihm zu,
Doch keine Antwort kam zurück.
Die Wächter fanden mich.
Als sie die Stadt durchstrichen;
Sie schlugen und verwund'ten mich,
Und die Hüter auf der Mauer
Nahmen meinen Schleier mir.

Ich beschwör' euch,
Mädchen von Ierusalem!
Treft ihr meinen Lieben an,
Sagt, was wollt ihr ihm verkünden?
Dass ich - krank vor Liebe bin!

"Was ist dein Freund vor andern Freunden?
O Reizendste der Frauen!
Was ist dein Freund vor andern Freunden,
Dass du uns so sehr beschwör'st?"

Mein Freund ist weis und roth,
Auserkoren aus Myriaden;
Feines Gold umhüllet sein Haupt.
Kraus gelockt sind seine Haare,
Gleich dem Raben schwarz:
Seine Augen gleichen Täubchen
An den Wasserbächen,
Die in Milch sich baden,
Und beim Ueberflusse sizen;
Seine Wangen Wurzbeetlein,
Angefüllt mit Balsamblüten;
Seine Lippen rothe Lilien,
Die die feinste Myrrhe triefen;
Seine Hände goldne Walzen,
Ausgeschmückt mit Hyazinthen;
Reines Elfenbein sein Leib,
Das besezt ist mit Sapphiren;
Seine Schenkel Marmorsäulen,
Die auf goldnen Füssen ruh'n;
Seine Ansehn gleicht dem Libanon,
Der durch Zedern auserlesen;
Sein Mund ganz Süssigkeit,
Und alles an ihm wonniglich -
So mein Lieber, so mein Freund.
Ihr Ierusalemitinnen!

"Wohin gieng er dein Lieber?
Du reizendste der Frauen!
Wohin wand' sich dein Lieber?
Mit dir wollen wir ihn suchen."

Mein Lieber gieng in seinen Garten
Zu den Beeten der Gewürze,
Um zu weiden in dem Garten
Und um Lilien zu sammlen. -
Ich gehöre meinem Lieben,
Und mein Lieber ist mir eigen,
Der unter Lilien weidet. - -


II
(Kap. VI, 4-9)

Schön bist du, wie Thirza, Liebchen!
Reizend wie Ierusalem,
Und gleich Kriegesschaaren furchtbar.
Wende von mir deine Augen;
Denn sie überwält'gen mich.
Deine Locken, gleich der Ziegenheerde,
Die am Gilod ruht;
Deine Zähne wie die Schäflein,
Wenn sie aus der Schwemme steigen,
Alle Zwillinge gebährend,
Und nicht eins ist kinderlos;
Wie der Riz an dem Granat,
Deine Wangen unterm Schleier.
Sechzig sind der Königinnen
Und der Konkubinen achtzig,
Und die Zofen sonder Zahl:
Doch nur eine ist mein Täubchen,
Meine Schöne,
Ihrer Mutter Auserwählte,
Die sie einst zur Welt gebahr!
Die Mädchen sah'n und priesen sie glückselig,
Selbst die Königinnen
Und Konkubinen lobten sie.


III
(Kap. VI, 10 - VII, 7)

Wer ist die, deren Anblick
Der Morgenröthe gleicht?
Schön wie der Mond,
An Klarheit wie die Sonne,
Furchtbar wie ein Kriegsheer?
Zum Nusswald wollt' ich gehen,
Um das Gesträuch am Fluss zu schau'n,
Tz sehen, ob die Reben trieben
Und die Granaten blühten?
Aber ich vergass es wieder:
Ganz war ich betäubt
Ob des Heeres Myriaden. -

Kehre, kehr', o Sulamith!
Kehre, kehre wieder!
Dass wir dich erblicken.
"Was wollt ihr seh'n an Sulamith?"
Die den Kriegesschaaren Gleiche!
Wie schön sind deine Schritte,
Edles Mädchen, in den Schuhen!
Deiner Hüften Schönheit gleichet
Kettenwerk von Künstlerhand;
Eine runde Schaal' dein Schoos,
Mit Würzwein angefüllt;
(Gewölbt) dein Busen wie ein Weizenhügel,
Und mit Lilien umsteckt;
Deine Brüste zwo Gazellen,
Ein Gazellenzwillingspaar;
Deine Hals ein Thurm von Elfenbein;
Deine Augen gleichen Hesbon's Teiche
An dem Thore Bathrabbim;
Deine Nase, wie der Thurm des Libanus,
Auf der Seite nach Damaskus;
Wie der Karmel ruht dein Haupt auf deinen Schultern;
Dein Haar wie königlicher Purpur,
In Flechten aufgebunden. -
Wie schön bist du, wie lieblich
In deinen Freuden, Liebe! -


IV
(Kap. VII, 3 - 14)

Deine Höhe gleicht dem Palmbaum,
Und den Trauben - deine Brüste.
Könnt' - so denk' ich -
Könnt' ich auf den Palmbaum klimmen
Und ergreifen seine Zweige:
Wie die Trauben an dem Weinstock
Sollten deine Brüste seyn,
Und der Hauch von deiner Nase
Wie der Aepfel Wohlgeruch,
Und dein Gaumen edler Wein -


Das Mädchen
Der meinem Trauten wohl behagt,
Und dem Schlummernden
Selbst beredte Lippen schaft. -
Ich gehöre meinem Lieben,
Und nach mir ist sein Verlangen.
Komm', mein Trauter!
Laß die Fluren uns besuchen,
Laß uns unter Cypern ruh'n,
Früh' zum Rebenberge wallen,
Sehen, ob der Weinstock sprosst?
Ob sich Rebenblüten zeigen?
Ob auch die Granaten blüh'n?
Dort schenk' ich dir meine Liebe.
Dudaim duften schon,
Und über unsrer Thür
Würzreiche Früchte mancher Art,
Heurige und fernige
Hab' ich dir, mein Trauter, aufbewahrt.


V
(Kap. VIII, 1-3)

O, daß du mein Bruder wärest,
Der mit mir an einer Brust gesogen
Daß, wenn ich ihn draussen find',
Ich dich küssen dürfte,
Und mich niemand drob verhöhnte!
Und führt und brächte dich
In meiner Mutter Wohnung,
Die mich hat gelehrt;
Ich tränkte dich mit angeseztem Wein
Und mit Granatensaft. - -
Unter meinem Haupt liegt seine Linke,
Mit der Rechten hält er mich umschlungen!


Schlummerlied
(Kap. VIII, 4)

Ich beschwör euch,
Ihr Ierusalemitinnen!
Machet sie nicht wach!
Weckt die Liebe nicht,
Bis es ihr von selbst gefällt!


Anhänge
Kapitel VIII, 5-14


Zurückerinnerung an die Jugend der Liebe und Beschreibung ihrer Macht (V, 5-7)

Wer war's, der von der Ebne sich erhob,
Auf ihren Freund gestüzt?
Einst weckt' ich dich dort unterm Apfelbaume,
Dort, wo die Mutter um dich litt',
Dort, wo sie dich gebahr.
Präg' wie ein Siegel tief in deine Brust,
Und wie ein Siegel mich auf deinen Arm!
Stark ist die Liebe wie der Tod,
Und fest ihr Eifer wie die Hölle;
Ihre Pfeile sind wie Feuer,
Gleich Iehova's Blizen.
Meere löschen nicht die Liebe,
Ströme reissen sie nicht hin;
Böt' einer auch all' sein Hab' um Liebe,
Nur Spott und Hohn würd' ihm zu Theil!


II

Ein Gespräch altkluger Brüder über ihre heranwachsende Schwester, nebst der lezteren naiven Antwort

(V, 8-12)

Erster Bruder
Unsre Schwester ist noch klein,
Hat noch keinen Busen:
Sag', was thun wir unsrer Schwester,
Wenn ein freier um sie wirbt?


Zweiter Bruder
Wenn sie eine Mauer ist,
Bau'n wir einen Silberthurm darauf:
Aber ist sie eine Pforte,
So soll Zedernholz sie schliessen.


Die Schwester
Ich bin eine Mauer izt,
Meine Brüste sind wie Thürme;
Drum beglückt mich auch sein Wohlgefallen.
Zu Baal Hamon hatte
Einen Weinberg Salomo,
Den er Hütern übertrug,
Dass ihm jeder für die Früchte
Tausend Silberlinge brächte.
Doch mein Weinberg liegt vor meinen Augen.
Tausend sei'n für dich, o Salomo!
Die zweihundert für die Hüter deiner Frucht!


III

Zuruf des horchenden Liebhabers, der der Göttin seines Herzens ein Lied der Liebe entlocken wollte

(V, 13, 14)

Er:
Du, die du in den Gärten wohnest!
Deiner Stimme horchen die Gespielen;
Laß mich hören deine Stimme:


Sie:
Eil', mein Trauter!
Der Gazelle gleich,
Gleich dem jungen Hirsch,
Auf die Würzgebürge!

Aus: Sammlung von Liedern der Liebe im Geschmacke Salomo's. Neu übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Joh. Franz Beyer. Marburg 1792

 

 

 

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