Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Ernst Ferdinand Friedrich (1865)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209

 




Das Hohelied Salomonis

Das sogenannte hohe Lied Salomonis
oder vielmehr "Sulamit",
ein pathetisches Dramation in 4 Akten
von einem unbekannten Hebräer des Salomonischen
Zeitalters zur theatralische Aufführung gedichtet
um's Jahr 950 vor. Chr.

Akt I.
Erste Scene

Sulamit
1. O, könnte er doch jetzt küssen mich,
Küsse geben mit seinem Munde!
Ergötzlich sind ja deine Zärtlichkeiten mehr, als Wein.

2. Durch ihren Dufthauch sind auch die Salböle an dir ergötzlich;
einem Salböl gleich erfüllt dein Name die Luft.

3. So müssen denn Mädchen dich lieb haben.

4. Ziehe nur fort mich hinter dir her!
Weglaufen wollten wir -
hat er mich hier hineingeführt, der König
in seine Gemächer -

5. Frohlocken wollten wir und erfreuen wollten
wir uns an dir,
rühmen wollten wir deine Zärtlichkeiten
mehr, als Wein.

6. Biedere Menschen müssen dich lieb haben.

7. Schwarz bin ich und doch anmuthig,
Töchter Jerusalem's,
wie die Zelte Kedar's -
wie die Teppiche Salomo's.

8. Sehet es nicht an mir,
daß ich schwärzlich bin,
daß mich verbrannt hat die Sonne;
meiner Mutter Söhne ergrimmten gegen mich.

9. Sie stellten mich an,
daß ich hüten mußte die Weinberge;
meinen Weinberg, welcher mir gehört,
habe ich nicht hüten können.

10. So zeige mir doch an, du,
den lieb hat meine Seele,
wo etwa lässest du weiden,
wo etwa lässest du lagern
in der Mittagszeit?!
Denn wozu soll ich schamübergossen
anlangen bei den Heerden deiner Gefährten?

 Die Zofen
11. Wenn du das nicht weißt, du,
schönste unter den Frauen,
so gehe nur hinaus du
nach den Fußstapfen des Kleinviehs
und lasse nur weiden deine Zicklein
bei Wohnungen von Männern,
die da weiden lassen!!

Zweite Scene

Salomo
12. Meiner Streitrosse Schaar
an den Pharao-Wagen
vergleiche ich dich, meine Freundin!

13. Anmuthig sind deine Wangen
innerhalb der Ziergehänge,
dein Hals innerhalb der Schmuckreihen;
Ziergehänge von Gold wollen wir dir machen
sammt den Putzknöpfchen von Silber.

Sulamit
14. Während, daß der König
in seinem Tischkreise war,
hat mein Nardenbüschel
seinen Dufthauch gespendet.

15. Der Myrrhen-Blüthenstrauß
ist mein Geliebter mir;
zwischen meinen Brüsten soll er übernachten.
Der Kofer-Blumenkolben
ist mein Geliebter mir,
in den Weinbergen von Engedi.

Salomo
16. Ei, du bist schön, meine Freundin!
Ei, du bist schön;
deine Augen sind Tauben.

Sulamit
17. Ei, du bist schön, mein Geliebter!
Ja auch angenehm; ja, unser Bette
wird auch schon grün.

Salomo
18. Die Balken unserer Häuser sind von Cedern;
unser Getäfel ist von Berothen!

Sulamit
Ich bin nur eine Herbstzeitlose
der Niederung Saron,
nur eine Lilie der Tiefthäler.

Salomo
20. Wie eine Lilie zwischen den Dornen,
so meine Freundin zwischen den Töchtern!

Sulamit
21. Wie ein Apfelbaum
unter des Waldes Bäumen,
so mein Geliebter zwischen den Söhnen!

22. In seinem Schatten begehre ich
meinen Wohnsitz
und seine Frucht ist süß meinem Gaumen.

23. Er pflegte mich hinzuführen
nach dem Weingarten-Hause
und sein Banner über mir - war Liebe -

24. Erlabet mich mit Rosinenkuchen,
erquickt mich mit Aepfeln!
Krank ja vor Liebe - bin ich.

25. Seine Linke unter's Haupt mir
und seine Rechte umfasse mich!

Salomo
26. Ich beschwöre euch hier,
ihr Töchter von Jerusalem,
bei den Gazellenweibchen
oder bei den Hirschkühen des Feldes:

27. Wenn ihr mir wecken werdet
und wenn ihr mir wach machen werdet
die Liebliche während,
daß sie niedergeneigt ist!


Dritte Scene

Sulamit
28. Der Hall meines Geliebten!
Siehe da, wie er ankommt!
Wie er Sprünge macht
über die Berge daher!
Wie er Sätze nimmt
über die Hügel daher!

29. Gleichet doch mein Geliebter
einem Gazellenmännchen
oder einem Wildkalbe von den Hirschen.

30. Siehe da, wie er stehet
hinter unserer Hauswand!
Wie er umherguckt an den Gitterlöchern!
Wie er glitzert an den Netzemaschen!

31. Anhebt mein Geliebter
und spricht zu mir:

32. Siehe auf, du, meine Freundin,
meine Schöne, und komm spazieren!

33. Denn siehe nur:
der Winter ist verflossen;
der Regen hat abgelassen;
er ist vorüber.

34. Die Blumen lassen sich sehen
auf dem Erdreich;
die Zeit der Weinabrankung ist herangerückt
und die Stimme der Turteltaube
laßt sich hören auf unserem Erdreich.

35. Der Feigenbaum würzet
seine Fruchtknollchen
und die Weinreben
mit Traubenblüthe spenden Dufthauch.

36. Stehe auf, du, meine Freundin,
meine Schöne, und komm spazieren!

37. Meine Taube
in den Schlupfwinkeln des Felsens
In dem Versteck der Steilschroffe!

38. Laß mich sehen dein Aussehen,
laß mich hören deine Stimme!
Denn deine Stimme ist gefällig,
und dein Aussehen ist anmuthig.

39. Fanget uns Füchse, kleine Füchse,
derweil sie Weinberge verwüsten
und unsere Weinberge mit Traubenblüthe! -

40. Mein Geliebter gehört zu mir und ich gehöre zu ihm,
der da weiden läßt unter den Lilien.

41. Während, daß Abendwind bringen wird dieser Tag
und fliehen werden die Schatten:

42. Kehre wieder! Gleiche du, mein Geliebter,
einem Gazellenmännchen
oder einem Wildkalbe von den Hirschen
über die Kluft-Berge daher!


Vierte Scene

Sulamit
43. Auf meinem Lager in der Nachtzeit
suche ich ihn, den lieb hat meine Seele.

44. Ich suche ihn und ich finde ihn nicht.

45. [Ihn zu finden,] will ich doch aufstehen
und will ich mich umthun in der Stadt.

46. In den Straßen und auf den Märkten
will ich suchen ihn,
den lieb hat meine Seele.

47. Ich suche ihn und finde ihn nicht.

48. Finden mich die Wächter,
die da umhergehen in der Stadt.

49. Ihn, den lieb hat meine Seele,
habt ihr wohl gesehen?
Ein klein wenig ist's, was ich weiter gehe
von ihnen weg bis,
daß ich finde ihn, den lieb hat meine Seele.

50. Ich fasse ihn fest und loslassen
werd' ich ihn nicht
bis, daß ich ihn hineingeführt habe
in's Haus meiner Mutter
und in's Gemach meiner Erzeugerin:

Salomo
51. Ich beschwöre euch hier, ihr Töchter von Jerusalem,
bei den Gazellenweibchen
oder bei den Hirschkühen des Feldes:

52. Wenn ihr mir wecken werdet
und wenn ihr mir wach machen werdet
die Liebliche während, daß sie niedergeneigt ist!!


Akt II.

Erste Scene

Die Zion's Söhne
1. Wer ist - das da?

2. Ei da, seine Sänfte! Die des Salomo!

Mehrere Pagen
3. Sie alle schwertvertraut, sind kampfgeübt;
ein jeder, sein Schwert auf seine Hüfte,
ist unerschrocken in den Nächten.

4. Einen Traghimmel hat er machen lassen,
der König Salomo, von den Bäumen des Libanon.

Andere Pagen
5. Seine Säulen hat er von Silber machen lassen,
seine Ueberbreitung von Gold,
seine Gesäßumwandung von Purpurrothem.

6. Sein Inneres ist geziert
mit einer, die lieblich ist -
mehr noch, als die Töchter Jerusalem's.

Die Zion's Söhne
7. Kommet heraus und sehet, ihr Zion's Töchter,
euch an - den König Salomo,
euch an - die Krone,
mit welcher ihn bekrönt hat seine Mutter!

8. Sehet euch an - den Tag seiner Vermählung
und euch an - den Tag seiner Herzensfreude!


Zweite Scene

Salomo
9. Ei, du bist schön, meine Freundin!
Ei du bist schön;
deine Augen sind Tauben,
in der Lücke deines Schleiers!

10. Dein Haar ist wie die Heerde Ziegen,
welche niederliegen an den Seiten
des Berges Gilead.

11. Deine Zähne sind, wie die Heerde Schurschafe,
welche emporsteigen aus der Wäsche,
welche alle mit Zwillingen gesegnet
so, daß ein unfruchtbares nicht
unter ihnen vorzufinden.

12. Wie ein Streif von Scharlachrothem
sind deine Lippen
und deine Sprache ist anmuthig;
wie ein Stück vom Granatapfel
ist deine Oberbacke in der Lücke
deines Schleiers!

13. Wie der David's Thurm ist dein Hals,
gebaut für Aushängewaffen;
tausend Schilde sind ausgehängt an ihm,
alle die Tartschen der Starken!

14. Deine zwei Brüste sind wie zwei Wildkälber,
Zwillinge einer Muttergazelle,
die da weiden unter den Lilien.

Sulamit
15. Während, daß Abendwind bringen wird dieser Tag
und fliehen werden die Schatten,

16. Will gehen ich zum Berg der Myrrhe
und zum Hügel des Weihrauchs.

Salomo
17. Ganz bist du schön, meine Freundin,
und ein Fehler ist nicht an dir vorzufinden.

18. Mit mir vom Libanon her,
du Braut, mit mir vom Libanon her
sollst du kommen,

19. Sollst schauen vom Gipfel Amana,
vom Gipfel Senir und Hermon,

20. Von den Zufluchtsstätten der Löwinnen,
von den Berghöhen der Parder!!

21. In's Herz mir dringst du,
meine Schwester, meine Braut,
in's Herz mir dringst du
mit einem deiner Augen nur,
mit einem Schnürlein nur
an den Seiten deines Halschens.

22. Wie schön müssen deine Zärtlichkeiten sein,
meine Schwester, du Braut,
wie ergötzlich müssen deine
Zärtlichkeiten sein vor dem Weine
und der Dufthauch der Salböle an dir
vor allerlei Balsampflanzen!

23. Bienenseim werden träufeln deine Lippen, du Braut;
Traubenhonig und Milch - unter deiner Zunge
und der Duft deiner Kleider - wie der Duft des Libanon!!

24. Ein verriegelter Garten ist meine Schwester, meine Braut,
ein verriegeltes Wassergerölle, ein versiegelter Quell.

25. Deine Gewächse - ein Paradies:
Granatenbäume sammit Prachtfrüchten,
Kofern sammt Narden,

26. Narde und Safran, Kalmus und Zimmet
sammt all den Sträuchern Weihrauch,
Myrrhe und Aloe sammt all den
Kronen von Balsampflanzen -

27. Ein Quell für Gärten, ein Born mit Wassern,
die lebendig sind und strömen vom Libanon.

Sulamit
28. Erwache, du Nordwind,
und komme, du Südwind!

29. Durchwehe meinen Garten,
daß strömen dessen Balsamgerüche,
daß komme mein Geliebter in seinen Garten
und er esse dessen Prachtfrüchte!

Salomo
30. Ja, ich komme in meinen Garten,
meine Schwester, du Braut!
Ich pflücke meine Myrrhe
sammt meinem Balsam.

31. Ja, ich esse meine Bienenwabe
sammt meinem Traubenhonig;
ich trinke meinen Wein
sammt meiner Milch;
esset, ihr Freunde!
Trinket und berauschet euch, ihr Geliebten!


Akt III.

Erste Scene

Sulamit
1. Ich habe mich schlafen gelegt
und annoch wacht mein Herz;
der Hall meines Geliebten! Er klopft an:

2. Mache auf mir, meine Schwester,
meine Freundin!
Meine Taube, meine Schuldlose!
Mein Haupt ist ja voll Thau geworden,
meine Locken - voll Nacht-Tropfen.

3. Abgelegt habe ich bereits
meinen Leinwandsrock;
ei, wo doch werde ich ihn jetzt anziehen?
Gewaschen habe ich
schon meine Füße;
ei, wo doch werde ich sie nun beschmutzen?

4. Mein Geliebter streckt seine Hand aus
durch die Thürluke
und meine Gefühle - toben zu ihm empor.

5. Aufstehe ich; ich bin dabei,
aufzumachen meinem Geliebten,
und meine Hände - träufeln Myrrhe
und meine Finger selbstentquillte Myrrhe
auf den Griffen des Riegels.

6. Aufmache ich, ich doch meinem Geliebten,
und mein Geliebter - ist ausgebogen, fortgezogen;
selber trete ich hinaus
auf Grund seiner Ansprache.

7. Da suche ich ihn
und ich finde ihn nicht;
da rufe ich nach ihm
und er antwortet mir nicht.

8. Es finden mich die Wächter,
die da umhergehen in der Stadt;
sie schlagen mich,
verwunden mich;
sie reißen weg meinen Ueberwurf,
fort vom Leibe mir,
Wächter innerhalb der Mauern!

Zweite Scene

Sulamit
9. Ich beschwöre euch hier,
ihr Töchter von Jerusalem!
wenn ihr finden werdet ihn,
meinen Geliebten,
was sollt ihr anzeigen ihm?:
daß krank vor Liebe - ich bin.

Die Zofen
10. Was ist dein Geliebter von einem andern
Geliebten verschieden,
schönste unter den Frauen?
Was ist dein Geliebter von einem
andern Geliebten verschieden?
Hast du ja so doch beschworen uns!

Sulamit
11. Mein Geliebter ist sonnenbeschienen
und rothfarbig,
ist bannerbetraut von tausend
andern verschieden:

12. Sein Haupt ist Kronengold, Reingold;
seine Locken sind Palmblüthenkolben,
sind schwarz wie der Rabe.

13. Seine Augen sind wie Tauben
über Bächen mit Wassern,
baden sich in Milch,
weilen sich über Fülle.

14. Seine Wangen sind wie das Balsambeet,
sind bewachsen mit Cypressen.

15. Seine Lippen sind Lilien,
träufeln selbstentquillte Myrrhe.

16. Seine Hände - goldene Halter,
die ausgelegt sind
mit Tartessus-Stein.

17. Seine Lenden sind eine
elfenbeinerne Kapsel,
die besetzt ist mit Sapphiren.

18. Seine Beine - Marmor-Ständer,
die gegründet sind
auf Untersätzen von Reingold.

19. Sein Aussehen ist wie der Libanon,
ist erwählenswert wie die Cedern.

20. Sein Gaumen - Süßigkeiten
und sein Ganzes - Begehrlichkeiten.

21. Das ist mein Geliebter
und das ist mein Freund,
ihr Töchter Jerusalem's!!

Die Zofen
22. Wohin ging dein Geliebter,
schönste unter den Frauen?
Wohin wandelte dein Geliebter?
Wollen wir ihn doch suchen mit dir!

Sulamit
23. Mein Geliebter - - stieg hinunter - -
zu seinem Weingarten,
zu den Balsambeeten - -
weiden zu lassen in den Viehgärten
und aufzusammeln - Lilien.


Dritte Scene

Sulamit
24. Ich gehöre meinem Geliebten an
und mein Geliebter gehört mir an,
er, der da weiden läßt unter den Lilien!

Salomo
25. Schön bist du, meine Freundin,
wie Thirza, anmuthig, wie Jerusalem,
doch furchtbar, wie die bebannerten Schaaren!

26. Wende ab deine Augen,
fort vom Gesichte mir!
Denn sie sind's, die mich beunruhigen.

27. Dein Haar ist wie die Heerde Ziegen,
welche niederliegen
an den Seiten des Gilead.

28. Deine Zähne sind wie die Heerde Schurschafe,
welche emporsteigen aus der Wäsche,

29. Welche alle mit Zwillingen gesegnet
so, daß ein unfruchtbares
nicht unter ihnen vorzufinden.

30. Wie ein Stück vom Granatapfel
ist deine Oberbacke in der
Lücke deines Schleiers.

31. Sechzig, die sind Königinnen
und achtzig sind Kebsfrauen
und Mädchen sind ohne Zahl.

32. Eine, die ist meine Taube, meine Schuldlose;
eine ist sie ihrer Mutter;
einzig ist sie ihrer Gebärerin.

33. Es sehen sie Töchter und preisen sie,
Königinnen und Kebsfrauen - und loben sie:

34. Wer ist die bloß, die da herüberlugt
gleichwie Morgenröthe,
schön wie die Mondweiße,
einzig wie die Sonnenlohe,
doch furchtbar wie die bebannerten Schaaren!?

35. Nach einem Nußpark war ich
[vordem] hinuntergestiegen,
zu sehen, ob knospet die Weinrebe,
blühen die Granatbäume.

36. Doch nahm ich keine Kenntniß davon;
meine Seele machte mich wagenschnell;
meine Leidenschaft [für dich] war eigenmächtig.

Die Königinnen
37. Komme zurück, komme zurück, o Sulamit!
Komme zurück, komme zurück!
Wollen wir doch uns satt schauen an dir.

Die Zofen
38. Was wollt ihr euch satt schauen an Sulamit,
nun sie sich davonmacht
nach den Heerdenlagern hin?!

Salomo
39. Was sind doch schön deine Tritte
mit den Sandalen!
Tochter eines Fürsten!!

40. Die Bogen deiner Hüften -
gleichwie Schmuckspangen,
die ein Kunstwerk sind
aus Händen eines Meisters.

41. Dein Schooß ist ein Becken der Tafelrunde,
das unerschöpflich darbiete den Mischtrank.

42. Dein Leib ist ein Haufe Weizenkörner,
der eingehegt liegt unter den Lilien.

43. Deine zwei Brüste - wie zwei Wildkälber,
die Zwillinge sind einer Muttergazelle.

44. Dein Hals ist wie der Elfenbein-Thurm;
deine Augen sind Wasserbehälter in Hesbon,
am Thore jener volkbelebten Stadt,

45. Deine Nase ist wie der Libanon's-Thurm,
welcher auserspähet das Antlitz von Damaskus.

46. Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel
und die Falbelkappe deines Hauptes
ist wie das Purpurroth eines Königs,
das umgebunden herunterfällt
in rinnenförmigen Falten.

47. Was bist du doch schön
und was bist du doch angenehm,
Liebliche mit den Wonnereizen!!

48. Diese deine Statur gleicht einem Palmbaum
und deine Brüste den Datteltrauben;
bei mir spreche ich:
ich will den Palmbaum ersteigen,
ich will seine Blattwedel erfassen!

49. Und wären mir nun doch:
deine Brüste wie Fruchttrauben der Weinrebe
und der Dufthauch deiner Nase wie Aepfel
und dein Gaumen wie Wein des Ergötzens!!

Sulamit
50. Hingehen zu meinem Geliebten, zu den Ebenen!!
Beschleichen - die Viehhürden mit Schlafenden!

51. Ich gehöre zu meinem Geliebten
und auf mich geht sein Verlangen!!

52. Komme doch, mein Geliebter,
daß wir hinausgehen auf's Feld!:

53. Zur Nacht wollten einkehren wir
in die Hirtenbuden;
morgen früh wollten wir aufmachen uns
zu den Weinbergen.

54. Sehen wollten wir da,
ob nicht schon knospet die Weinrebe,
aufbricht die Traubenblüthe,
blühen die Granatenbäume?

55. Dort möcht' ich erweisen
meine Zärtlichkeiten dir!

56. Die Liebesblumen da spenden jetzt Dufthauch
und über unsern Thürwegen
sind allerlei Prachtsachen von Obst,
frische, auch alte.

57. Mein Geliebter, ich verwahrte sie dir!

58. Wer nur - könnte doch geben dich
zum Bruder mir, zum Säugling von den Brüsten
meiner Mutter,
geben auch, daß ich fände dich
draußen auf der Steppe?!:

59. Ich küßte dich ohne, daß man dabei
verachtete mich;
ich leitete hinweg dich,
ich führete hinein dich
in's Haus meiner Mutter,
welche belehret mich.

60. Ich tränkte dich mit Wein,
der Spezerei ist,
mit Most von meinem Granatenbaum. -
Seine Linke unter's Haupt mir
und seine Rechte umfasse mich!

Salomo
61. Ich beschwöre euch hier,
ihr Töchter von Jerusalem,
was wollt ihr mir wecken
und was wollt ihr mir wach machen
die Liebliche währende,
daß sie niedergeneigt ist?!


Akt IV.

Erste Scene

Die Gefährten
1. Wer denn - ist die da?
Sie steigt herauf von der Trift her!
Sie stützt sich auf - auf ihren Geliebten!!

Der Geliebte
2. Unter diesem Apfelbaum weckte ich dich einst auf.
Daselbst auch kreißte mit dir deine Mutter;
daselbst kreißte, die dich gebar.

Sulamit
3. Lege mich, wie dein Umhänge-Petschaft,
dir an's Herz!!
Wie dein Umhänge-Petschaft,
dir an den Arm!

4. Denn fest, wie der Todtenschlaf, ist Liebe;
starr, wie das Leichenreich, ist Inbrunst.

5. Ihre Gluten sind Feuers Gluten;
[ihre Flammen] sind Gottes Flammen.

6. Viele Wasser vermöchten nicht
auszulöschen die Liebe
und Ströme - verflutheten sie nicht.

7. Thät' hingeben Jemand all die Habe
seines Hauses, um Liebe zu erkaufen,
verachten, - verachten würde man ihn.

8. Eine Schwester haben wir, eine kleine,
und Brüste hat sie noch keine;
was machen wir mit unserer Schwester Tags,
da geworben werden wird um sie?

9. Wenn eine Mauer sie sein wird,
bauen wir auf sie eine Zinne von Silber
und, wenn eine Thorwand sie sein wird,
hämmern wir auf sie
eine Platte von Cedernholz!

10. Ja, ich war eine Mauer
und meine Brüste waren wie Thürme;
da bin ich denn in seinen Augen
gewesen wie eine Frieden erreichende Stadt.

11. Ein Weinberg gehörte dem Salomo bei Baalhamon.

12. Er übergab jenen Weinberg mehreren Hütern;
ein jeder mußt ihm einbringen
für seine Nutznießeung desselben
ein tausend Silber-Seckel.

13. Mein Weinberg, welcher mir gehört,
steht mir allein auch zu Gebote!!

14. Das Tausend sei wieder dein, Salomo,
und zweihundert mögen jedem der Hüter
übrig bleiben bei seiner Nutznießung!

Der Geliebte
15. O du sitzest ja jetzt
in den Viehgärten hier!!
Gefährten sind's; die horchen auf deine Stimme.
Laß hier mich dieselbe nur weiter hören!

Sulamit
16. Laß uns entweichen, mein Geliebter!!
Und gleiche du einem Gazellenmännchen
oder einem Wildkalbe von den Hirschen
über die Berge mit Balsamsträuchern dahin!

übersetzt von Ernst Ferdinand Friedrich

Aus: Altpreußische Monatsschrift
zur Spiegelung des provinziellen Lebens
in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Industrie
herausgegeben von
Rudolf Reicke und Ernst Wichert
Zweiter Band Königsberg in Pr. 1865
Verlag und Druck von Albert Rosbach
(S. 481-505)


 

 

 

zurück zum Inhaltsverzeichnis