Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von Daniel Sanders (1866)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209

 




Das Hohelied Salomonis


Das erste Begegnen

- O küsst' er mich mit seines Mundes Kuss! -
- Ja, süßerer Genuss
Ist Deine Liebe mir als Wein. -
- Wie duften Deine Salben fein! -
- Deines Namens Hauch
Ist duftenden Öls Erguss. -
Drum liebten Dich auch
Die Mägdelein.
Sie zogen Dich fort: nachrannten wir Dir
Wegen Deiner Salben
Duftender Zier.

Da griff aus dem Kreis
Mich der König heraus,
Zu führen mich leis
Mit fort in das Haus,
Rief: Liebchen, Deinethalben
Jauchz' ich und freu mich an Dir. -

O lass mich Deiner Liebe jetzt gedenken
Vor allem Wein und lieblichen Getränken,
Du, dem Alle Liebe schenken!

Schwarz bin ich, doch lieblich, bin voll Zier,
O Jerusalem's Töchter ihr!
Wie im Feld
Der Kedaren Gezelt,
Wie die Teppiche Salomo's.
Sehet mich nicht an so groß,
Weil ich schwärzlich bin
Und von der Sonne verbrannt.

Meiner Brüder Sinn
War in Groll entbrannt.
Und auf's Land
Setzten sie mich hin
Als ihres Weinbergs Hüterin.

Meines Weinbergs, der mein eigen war,
Nahm ich hütend nicht und schützend wahr.
Nun aber will ich immerdar
Bewahren meinen Weinberg mir.
Behalt, o Salomo, Dir
Die Tausende, Dein Gold,
Und gieb nun den Hütern des Gartens den Sold!

- - O sag mir an,
Du meiner Seele liebster Mann!
Wo weidest Du?
Wo hältst Du Ruh
Zur Mittagszeit?
Dass ich nicht weit
Hin und her schweif' im Feld
Bei Deiner Genossen Herd'
Und Deiner Genossen Zelt! -

- Misskennst Du Dich, o holdeste der Frauen,
Als sei ein Hirte Deiner werth,
Dann geh auf die Auen,
Dann geh auf die Flur,
Folge der Schafe, der Böcke Spur,
Zu Hirten zu gelangen;
Doch ich vergleiche Dein Prangen,
O süßes Liebchen makellos,
Meinem Ross am Wagen Pharao's.
Deine Wangen
Sie prangen
Schön in den Spangen.
Dein Hals in des Perlbands reizender Zier;
Goldene Schnüre schaff' ich Dir,
Mit silbernen Knöpfchen behangen! -

So hauchte bis zum König durch die Luft
Meine Narde ihren Duft!!

- Mein Liebster ist ein Myrrhenstrauß,
Der mir am Busen hanget;
Er hauchet süße Düfte aus
Und pranget,
Wie in Engedi's Palmenhain
Die würz'gen Kophartrauben. -

- Schön bist Du, Holde, Du allein!
Deine Augen - Turteltauben! -

- Schön bist Du, o Geliebter mein,
Schön bist Du, hold und lieb und fein. -

- Lass grünen Rasen unser Lager sein!
Des Hauses Säulen Cederbäume,
Lass wölben Cypressen des Daches Räume! -

- Ich bin die Lilie der Ebne, ich bin die Ros' im Thal. -

- Wie unter den Dornen die Rose,
Ist meine Holde, Lose
In der Töchter Zahl. -

Gleich dem Fruchtbaum, dem reizendschönen,
Unter den Bäumen im Wald
Strahlst Du unter den Söhnen,
Liebster, hervor an Gestalt.
Zu sitzen, geschützt vor der Sonne,
Im Schatten unter dem Baum,
Ist meine Lust, ist meine Wonne;
Seine Frucht behaget dem Gaum.

- - Ins Haus des Weines führet mich,
Als Banner überschwebe mich
Sein Banner - süße Liebe!
O eilt, zur Labung Reben
Und Äpfeln mir zu geben,
(Denn krank bin ich, ja krank vor Liebe)
Damit ich ess' und trinke!!
Mir unterm Haupt lag seine Linke
Und seine Rechte liebedurchdrungen
Hielt mich umschlungen!!


Das Stelldichein

Ich beschwör' euch, Jerusalem's Töchter ihr,
Bei den Gazellen, bei den Hindinnen auf dem Feld!
Wecket die Liebste mir
Nicht eh', als bis ihr's gefällt! -

- Venimm!
Des Liebsten Stimm'!
O sieh, wie kommt er jetzt
Über die Berge gesetzt,
Gesprungen über die Höhn!
Mein Liebster ist schön!
Er gleicht an Schnelle
Dem Hirsch, der jungen Gazelle.
Schau hinter der Wand ihn stehen
Und durchs Geländer sehen
Und blinzeln ins Gitter hinein!
Er flüstert mit leisem Laute
Und ruft, der Liebste mein:
- Auf, Traute!
Schöne, komm!
Der Winter ist vergangen,
Der Regen, er verschwand
Und Lenzesblumen prangen
Im ganzen weiten Land.
Die Zeit der Lieder
Kehrte wieder,
Es girrt die Taube
Dort in der Laube
Und Knospen, die am Zweige
Der Feige
Sich entfalten,
Und Reben,
Die daneben
Ansetzend sich gestalten,
Verbreiten durch die Luft
Wohlgeruch und Duft.
Auf, Traute! Schöne, komm!
Auf, komm!
Mein Täubchen, wiss'!
An des Felsens Riss,
Wo die Schlucht hinein
Sich so heimlich bricht,
Dort, Du Traute mein,
Zeig mir Dein Gesicht!
Lass mich dort
Am heimlich stillen Ort
Hören Deiner Stimme Laut;
Denn Dein Wort
Ist lieb und traut
Und klar und licht
Dein Angesicht. -

- Auf, lasst uns die Füchslein, die kleinen, die raschen,
Auf, lasst uns sie greifen und lasst uns sie haschen,
Die Füchslein, die am Weinberg naschen,
Am Weinberg, welcher jetzt
Schon Augen und Knospen angesetzt. -

- Mein Liebster ist mein
Und ich bin sein,
Der unter Rosen weidet;
Doch bis der Tag sich kühlt und scheidet,
Bis hin die Schatten weichen,
Kehr um, mein Freund so schön!
Eil fort, zu vergleichen
Dem Hirsch, der jungen Gazelle
An Schnelle
Auf zackigen Höhn. -

- Sieh, mein Liebchen, Du bist schön,
Ja Du bist schön!
Aus dem Schleier vorblicken
Die Augen und nicken,
Wie Tauben, fromm und klar;
Es wallt Dein lockiges Haar,
Wie eine Herde Ziegen,
Die vom Berge Gilead hernieder liegen;
Die Zähne, wie eine Herde, gestiegen
Neugeschoren auf vom Baden,
Gezwillingt all und alle ohne Schaden;
Die Lippen Purpurfaden
Und lieb und traut
Der Stimme Laut;
Die Wange gleich Granatenschnitte
Aus des Schleiers Mitte.
Wie David's Burg Dein Hals,
Erbaut zum Waffenort.
Tausendfache Waffe hanget dort,
Der Starken Schilde All's.
Die Brüste, die beiden,
Wie Zwillingsrehe, die unter Rosen weiden,
Ja, bis der Tag sich kühlt zum Scheiden,
Bis hin die Schatten weichen,
Will ich fort noch streichen,
Hin, Du Liebe, traut und schön,
Zum Myrrhengebirg, zu den Weihrauchhöhn. -

Schön bist Du, Liebchen, meine Seele,
Bist ohne alle Fehle,
Komm mit mir vom Libanon, süße Braut,
Komm mit mir vom Libanon, lieb und traut!
Und lug von Amana's Gipfel,
Von Senir's und Hermon's Gipfel,
Wo Löwinnen liegen und kauern,
Wo Pardel hausen und lauern!
Du machst mich beherzt,
Mein Goldchen,
Mein Holdchen,
Mit eines Blickes Blendung,
Mit einer Kette Wendung
In Deines Halses Schmuck beherzt.
Wie lieb, wenn sie herzt
Und scherzt,
Ist mein Goldchen,
Mein Holdchen!
Süßer als Wein
Die Liebe Dein!
Süßer als Balsam der Duft,
Der durch die Luft
Haucht von Deinen Salben wieder;
Honig treuft von Deinen Lippen nieder,
Honig und Milch ruht unter der Zungen Dir,
Deine Kleider, sie sind durchdrungen Dir
Von Wohlgeruch: es duftet davon
Wie Wohlgeruch vom Libanon.

Bist ein Garten verschlossen,
Verriegelt!
Mein Goldchen,
Mein Holdchen,
Ein Garten verschlossen,
Verriegelt!
Ein Bronnen, verwahrt
Und versiegelt!
Was Dir entsprossen,
Ein Granatengarten zart
Mit Früchten köstlicher Art,
Drin Cypern und Narden,
Drin Krokus und Narden,
Drin Kalmus und Zimmt, dabei
Weihrauchstauden allerlei,
Myrrhe und Aloe drinnen gebaut
Und jedes edle, würzige Kraut;
Drinnen auch des Gartens Quell,
Ein Born des Wassers, lebendig und hell,
Nieselnd herab vom Libanon schnell. -

- Erwacht!
Denn, Winde der Mitternacht!
Südwind soll mich umfliegen,
Durchwühlen meinen Garten,
Dass Balsam mög' entfließen.
Es komm' in den Garten
Der Liebste gestiegen,
Seine süße Frucht zu genießen. -

- Hin in den Garten
Kam ich gestiegen,
Mein Goldchen,
Mein Holdchen,
Habe von meiner Myrrhe gepflückt,
Mit meinem Würzkraut mich geschmückt,
Von meinem Honig, meinem Seim genossen,
Getrunken von meiner Milch und meinem Wein . . .
Ihr Genossen,
Ihr Freunde mein,
Trinket, berauscht euch, ihr Lieben,
Im Lieben! -


Sie sucht den Geliebten

Ich schlafe, aber meine Seele wacht!
Vernimm
Des Freundes Stimm',
O Herz, durch dunkle Nacht!
Ich hör' ihn klopfen:

- Öffne, ich komme,
Du Schwester und Freundin,
Du Täubchen, Du Fromme!
Voll Thau das Haupt, das Haar
voll nächt'ger Tropfen!

- Hab' ausgezogen das Kleidchen mein:
Wie soll ich's anziehn wieder?
Habe gewaschen die Füße rein:
Wie soll ich beschmutzen sie wieder? -

- Da streckte durch's Gitter hinein
Mein Liebster seine Hand;
Mit wilderem Regen
Schlug ihm mein Herz entgegen.
Und auf ich stand,
Zu öffnen sofort.
Doch meine Finger troffen
Von Myrrhe und meine Hand
Von Myrrhe an des Schlosses Rand.
Die Thür war offen,
Doch ach! fort
Hatte sich schon der Freund gewandt.

(Ach, wie er dort
Mit süßem Wort
An der Pforte stand,
War mir die Seele entschwunden!! -)

Nun sucht' ich ihn:
Doch ihn gefunden,
Ach, hab' ich nicht;
Nun rief ich ihn;
Doch er, verschwunden,
Gab Antwort nicht. -

Da haben, die die Stadt durchziehn,
Die Wächter mich gefunden.
Sie schlugen mir Wunden,
Rissen vom Gesicht
Den Schleier mir fort,
Die Wächter auf der Mauer dort. -

Jerusalem's Töchter ihr,
Wenn ihr ihn findet mir,
Den lieben Mann,
Was wollt ihr dann
Ihm sagen an?
O sagt ihm, daß mein Sinn
Krank vor Lieben
Welkt dahin! -

Was ist denn Dein Liebster
Vor anderen Lieben,
Du aller Frauen Preis!
Was ist denn Dein Liebster
Vor anderen Lieben,
Dass Du uns also beschworen?

- Mein Liebster ist roth und weiß,
Vor Tausenden auserkoren;
Sein Haupt das reinste Gold.
Rabenschwarz herrollt
Sein Lockenhaar.
Die Augen schwimmen klar
Und helle,
Wie Tauben im Wasserquelle,
In weißer Milch einher
Und prangen
In Fülle hoch und hehr.
Die Wangen -
Balsambeete fein,
Auf denen Spezerein
Wuchern gehäuft.
Die Lippen - Rosen,
Von denen treuft
Köstliche Myrrhe ohn' Ende.
Goldene Ringe die Hände,
Welche Edelsteine
Kunstreich verzieren.
Der Leib - von Elfenbeine,
Geschmücket mit Sapphiren.
Seine Schenkel - Säulen geründet,
Gegründet
Auf Fußgestell von lautrem Gold.
Sein Antlitz hold
Wie Libanon und stolz,
Wie der Zederbaum,
Das ragende Holz.
Sein Gaum
Ist Süßigkeit
Und Lieblichkeit
Sein ganzes Wesen.
So auserlesen
Ist mein Freund, der Liebste mir,
O Jerusalem's Töchter ihr! -

- Wo ging denn Dein Geliebter hin,
Du aller Frauen Zier?
Wo ging denn Dein Geliebter hin?
Wir wollen ihn suchen mit Dir! -

- Mein Liebster war gegangen hin,
Gegangen in den Garten,
Des Balsambeets zu warten,
Zu weiden in dem Garten,
Zu pflücken dorten Rosen.
Dort fand ich ihn den Losen,
Wir fanden uns zum Kosen.
Nun bin ich sein
Und er ist mein,
Der weidet unter den Rosen.

- Schön bist Du, Thirza gleich,
An Anmuth reich,
Wie Jerusalem lieblich sehr,
Gefährlich wie ein siegreich Heer. -
Wend' fort die Augen, hell und klar,
Die mich besieget ganz und gar.
Es wallt Dein lockiges Haar,
Wie eine Herde Ziegen,
Die vom Berge Gilead herniederliegen.
Die Zähne, wie eine Herde, gestiegen
Neugeschoren auf vom Baden,
Gezwillingt all und alle ohne Schaden.
Die Lippen Purpurfaden,
Und lieb und traut
Der Stimme Laut,
Die Wange gleich Granatenschnitte
Aus des Schleiers Mitte
So zart zu schauen. -
Ob sechzig Fürstinnen, achtzig der Frauen,
Zahllos die Mägdlein mir sind,
So ist doch Eine
Mein Täubchen, die Feine,
Sie ihrer Mutter einzig Kind,
Ihr einziges, ihr liebes Kind.

Es sollen die Mägdlein sie schauen
Und Ehrfurcht ihr beweisen,
Die Fürstinnen und die Frauen
Anstaunend sie rühmen und preisen:
Wer ist sie, strahlend hervor,
Wie Morgenroth an des Ostens Thor?
Schön, wie der Mond
Am Himmel thront,
Spendend lautere Wonne,
Wie die lichte Sonne,
Fürchterlich bedroh'nd
Und gefährlich sehr,
Wie ein siegreich Heer? -


Die Überraschung oder der Hochzeitszug

Was ist's, das hervor
Steigt, aus der Wüst' empor
Wie eine Säule Rauchs?
Duftenden Hauchs,
Wie Myrrhe und Weihrauch fein
Und des Würzekrämers Spezerein?
- Siehe! Salomo's Wagen, umgeben zur Stell
Von sechzig Helden, Helden aus Israel,
Jeder bewehrt,
Fassend das Schwert,
Kriegsgelehrt,
Jeder das Schwert
An der Lende,
Dass er es wende
Und fechte
Gegen das Grauen der Nächte. -
- Der König Salomo machte sich eine Wagen stolz
Aus Libanon's Holz,
Die Säulen - Silber, die Lehnen - Gold,
Die Sitze - Purpur aufgerollt
Und innen Schmuckwerk fein,
Die Liebste hold
Von Jerusalem's Mägdelein. -

- O gehet
Und sehet,
Zion's Töchter, den König Salomo
Und die Krone, womit ihn, froh
Und beglückt,
Die Mutter geschmückt
An seinem Hochzeitstag
Und seines Herzens Freudentag! -

- In den Nusswald war ich gegangen,
Zu schaun des Thales Prangen,
Zu schauen nach des Weines Blühn,
Ob die Granate sei schon grün.
Dort wollt' ich mich Dir geben hin;
Doch Das, Das ahnte nicht mein Sinn,
Er kam gefahren
Mit seiner Edeln Scharen
Und hat mich getragen
Hinein in den Wagen. -

- Kehre, kehre Dich um, Sulamith,
Lass uns doch Dein Antlitz sehen! -

- Warum sucht ihr so, Sulamith,
Warum so mich anzusehen,
Als ob ich wäre
Eine Bajadere
Im Tanze mich zu drehen?! -

- Wie schön, o Fürstliche, strahlen
Deine Tritte in den Sandalen!
Gewölbt die Lenden,
Sie prangen,
Wie Spangen,
Gefertigt von Meisterhänden.
Dein Nabel - eine Schale rund,
Drin mangelt's nimmer an Wein.
Dein Leib - ein Weizenhaufen, bunt
Besteckt mit Röselein.
Deiner Brüste Paar -
Wie junges Zwillingspaar
Der Gazelle.
Dein Hals - ein Thurm von Elfenbein.
So helle,
So klar
Die Äugelein,
Wie am Thor Batrabbim die Teiche von Hesbon.
Die Nase, wie die Spitze
Vom hohem Libanon,
Ragend über Damaskus' Sitze.
Dein Haupt, wie Karmel, über Dir,
Daran die Locken voll Zier
Wie Purpurnetze hangen,
Darin ein König gefangen. -

- Wie schön bist Du, wie anmuthreich,
O Liebste, spendend Lust;
Dein Wuchs ist schlanker Palme gleich,
Der Traube Deine Brust.
Ich will die Palm' ersteigen
Und greifen nach den Zweigen,
Es sollen die Brüste Trauben mir sein,
Dein Odem duftende Äpfelein,
Dein Gaumen süßer Genuss,
Labender Wein. -

- Er gehet dem Geliebten mein
Von meiner entschlummernden Lippe ein! -
Ich bin des Liebsten ich bin sein
Und auf mir ruhet sein Kuss!
Komm, lass uns, o Geliebter mein,
Auf die Felder eilen,
In den Dörfern weilen,
Nach dem Weinberg gehen früh,
Schauen, ob die Rebe sprieße,
Ob die Knospe sich erschließe,
Ob schon die Granate blüh.
Dort will ich Dir hingeben mich.
Es duften die Veilchen so lieblich und zart.
An unsern Pforten
Stehen für Dich
Köstliche Früchte von jeder Art.
Heurige, fernige habe ich dorten,
Süßer Freund, Dir aufbewahrt.

Wer gäb's, Du wärst ein Bruder mir,
Genährt an meiner Mutter Brust!
Ich träfe Dich draußen und koste mit Dir
Nach Herzenslust,
Und küsste Dich
Und Niemand doch, der mich
Drob schölte aus.
Dann führet' ich,
Dann brächt' ich Dich
In meiner Mutter Haus.
Du lehrtest mich an.
Ich kredenze Dir dann
Würzigen Wein,
Schenke Dir ein
Saft von Granaten - o trinke!
Mir unterm Haupt liegt Deine Linke
Und Deine Rechte, liebedurchdrungen,
Hält mich umschlungen! -

- Ich beschwör' euch, Jerusalem's Töchter ihr,
Bei den Hirschen, den Hindinnen auf dem Feld,
Wecket die Liebste mir
Nicht eh, als bis ihr's gefällt! -

- Wer ist sie, die von der Wüste prangend
Steigt auf, an des Liebsten Busen hangend? -

- Unterm Apfelbaume Dich geweckt hab' ich,
Dorten hat geboren Deine Mutter Dich,
Dorten sich entbunden Deine Mutter Dein. -

- Lasse mich ein Siegel sein
Am Herzen Dir!
Lasse mich ein Siegel sein
Im Arme Dir!
Denn stark wie der Tod ist die Lieb' und heftig,
Wie die Höll' ihr Eifern so fest und kräftig;
Feuerswuth,
Göttliche Flamm' ist Liebesgluth.
Liebesgluth löschet nicht aus
Der Wasser Braus,
Ersäufet nicht der Ströme Fluth.
Wenn Einer aus dem Haus
All sein Gut
Und all sein Gold
Um Liebe geben wollt', -
Man höhnete ihn aus,
Sie würde ihm nicht gezollt. -

übersetzt von Daniel Sanders (1819-1897)

Aus: Das Hohe Lied Salomonis
von Dr. Daniel Sanders
Leipzig Verlag von Otto Wigand 1866



 

 

 

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