Das Hohe Lied Salomos

In der Übertragung von  Franz Eduard Weissbach (1801-1870)

 


Wassily Kandinsky (1866-1944)
Improvisation 209



1.
Das Hohe Lied Salomos

I. Gesang

Sulamit:

2.
Ach, küsst' er mich mit seines Mundes Küssen! -
Als Wohlgeruch sind köstlich seine Salben,
Ist doch dein Kosen köstlicher als Wein,
Drum lieben die Jungfrau'n dich.

3.
Zieh' mich dir nach! Wie wollen wir laufen! -
Führte mich der König in sein Gemach! -
Wie wollten wir frohlocken und dein uns freu'n,
Ohne Rückhalt hat man dich lieb.

4.
Schwarz bin ich und lieblich doch
- Ihr Töchter Jerusalems -
Wie Kedars Zelte,
Wie Salomos Zelttuch.

5.
Seht mich nicht darum an, dass etwas schwarz ich bin,
Dass mich die Sonne so angeschienen:
Meiner Mutter Söhne, mit feindlichem Sinn
Machten sie mich zur Weinbergshüterin. -
- Meinen eig'nen Weinberg behütet' ich nicht. -

6.
Ach, kund mir gieb, du, den meine Seele liebt,
Wo weidest du?
Wo hältst du am Mittag Ruh?
Dass man nicht für eine Diebin mich halte
Bei den Heerden deiner Genossen.
 

Die Jerusalemitinnen:

7.
Wenn du's nicht weißt,
- Du schönste der Frauen -
So geh nur hinaus gleich hinter der Heerde,
Und weide deine Zicklein
Bei den Hütten der Hirten.
 

Salomo:

8.
Meinen Rossen an den Pharao-Wagen
Find' ich dich, meine Freundin, gleich;
9.
So lieblich sind deine Wangen in den Kettchen,
Dein Hals in den Schnüren.
10.
Kettchen von Gold woll'n wir dir schaffen
Nebst Scheibchen von Silber.
 

Sulamit:

11.
Bis der König in ihren Bereich kam,
Gab meine Nard' ihren Duft;
12.
Ein Myrrhenfläschen ist mein Geliebter mir,
Das mir am Busch ruht,
13.
Eine Cypertraub' ist mein Geliebter mir
Aus den Weinbergen Engedi's.
 

Salomo:

14.
Sieh' doch, wie schön bist du, meine Freundin,
Sieh' doch, wie schön! Deine Augen sind Tauben.
 

Sulamit:

15.
Sieh' doch, wie schön bist du, mein Geliebter!
Und wie du hold bist, ist auch grün unser Lager.
 

Salomo:

16.
Cedern sind unsers Hauses Deckengebälk,
Uns're Säulen Cypressen.
 

Sulamit:

17.
Ich bin Sarons bunter Blumenschmuck,
Bin die Lilie der Täler.
 

Salomo:

18.
Wie eine Lilie unter den Dornen,
So ist meine Freundin unter den Jungfrau'n.
 

Sulamit:

19.
Wie ein Apfelbaum unter Waldgehölz,
So mein Geliebter unter den Männern.
 

Sulamit:

20.
In seinem Schatten mag ich gern sitzen
Und seine Frucht ist süss meinem Gaumen.
21.
Er führte mich ins Weinhaus
Und sein Panier war mir die Liebe.
22.
Lasst mich mit Traubenkuchen stärken,
Mich mit Aepfeln erquicken;
Denn ich bin krank vor Liebe!

23.
Seine Link' unter mein Haupt!
Seine Recht' umfasse mich!
24.
Ich beschwör' euch, Töchter Jerusalems,
Bei den Gazellen oder Hindinnen der Flur:
Wo ihr weckt, wo ihr aufweckt die Liebe,
Bis ihr es gefällt!
 

II. Gesang

Sulamit:

1.
Horch! mein Geliebter – siehe da kommt er,
Springt über die Berge,
Schnell über die Hügel.
Es gleicht mein Geliebter einer Gazelle
Oder einem Jungen der Hirsche.

2.
Sieh', da steht er hinter uns'rer Wand,
Blickt durch die Fenster her,
Blinket durch's Gitter.

3.
Nun hebt mein Freund an und spricht zu mir:
"Auf, meine Freundin, meine Schöne, mache dich auf!
4.
"Denn siehe, vorbei ist die Kälte,
"Der Regen nun gänzlich verschwunden.

5.
"Es zeigen die Blumen sich auf der Flur,
"Die Zeit zum Gesange ist da,
"Und die Stimme der Turtel vernimmt man auf unserm Gebiete.
6.
"Der Feigenbaum würzt seine Spätfrucht,
"Und die blühenden Weinstöcke spenden Duft.
"Auf, meine Freundin, meine Schöne, mache dich auf!

7.
"Meine Taub' auf Felsenhöh'n,
"Im Versteck steiler Klippen,
"Lass deine Gestalt mich seh'n,
"Deine Stimme mich hören!
"Denn deine Stimm' ist süss
"Und lieblich deine Gestalt."

8.
Fanget Füchs' uns ein!
Sind die Füchs' auch noch klein,
Schaden sie doch dem Wein,
Auch unserm blühenden Wein.

9.
Mein Geliebter ist mein,
Und ich bin sein,
Der unter den Lilien weidet.

10.
Bis der Tag kühl weht
Und die Schatten fliehen,
Mein Geliebter, zur Stell' gleich der Gazell',
Oder der Hirsche Rehen,
Auf Bathrum-Höhen!

III. Gesang

Sulamit:

1.
Auf meinem nächtlichen Lager
Sucht' ich, den meine Seele liebt; -
Ich sucht', und fand ihn nicht.

2.
"
Aufmachen will ich mich und in der Stadt umhergeh'n,
"Auf Strassen und auf Plätzen
"Will ich suchen, den meine Seele liebt! -
Ich sucht', und fand ihn nicht.

3.
Es treffen mich die Wächter, die in der Stadt umgeh'n:
"Habt ihr geseh'n, den meine Seele liebt?"

4.
Kaum war ich an ihnen vorüber,
Da hab' ich gefunden, den meine Seele liebt.
Ich erfasst' ihn und will ihn nicht lassen,
Bis ich in meiner Mutter Haus ihn geführt,
In meiner Gebärerin Kammer.

5.
Ich beschwör' euch, Töchter Jerusalems,
Bei den Gazellen oder Hindinnen der Flur:
Wo ihr weckt, wo ihr aufweckt die Liebe,
Bis ihr es gefällt!
 

IV. Gesang

Hofleute:

1.
Wer ist die, die da von der Trift her sich erhebt
Gleich aufsteigenden Rauchsäulen,
Umduftet von Myrrh' und Weihrauch,
Vom auserlesensten Würzpulver des Kaufmanns?

2.
Sieh', sein eigen – Salomos – Ruhbett!
Sechzig Helden rings umher
Von Israels Helden;

3.
Alle sind sie Schwertführer,
Kampfgeübt,
Jeder hat zur Seite sein Schwert
Gegen nächtliche Furcht.

4.
Ein Prachtbett liess sich König Salomo machen
Aus Holz vom Libanon.

5.
Die Säulen d'ran liess von Silber,
Den Boden von Gold,
Den Sitz von Purpur er machen;
Seine Mitt' ist mit einer Liebe besetzt
Von Jerusalems Töchtern.

6.
Heraus, und beschaut euch, ihr Töchter Zions,
Den König Salomo im Kranz,
Damit ihn seine Mutter am Tag' seiner Hochzeit
Und dem Tage seiner Herzensfreude bekränzt!
 

Salomo:

7.
Sieh' doch, wie schön bist du, meine Freundin,
Sieh' doch, wie schön! Deine Augen sind Tauben
Hinter deinem Schleier.

8.
Dein Haar ist wie eine Heerde Ziegen,
Die am Gilead herab lagern,
Deine Zähne sind wie eine Heerde Schurschafe,
Die eben der Wäsche entstiegen,
Die allesammt Zwillinge haben,
Und deren keins ist unfruchtbar;

9.
Wie ein Carmoisinband sind deine Lippen
Und lieblich dein Mund,
Wie eine Granatenhälfte ist deine Wange
Hinter deinem Schleier.

10.
Dein Hals ist wie der Davidsturm,
Der gebaut zum Waffenspeicher,
D'ran tausend Schilde hangen,
Der Helden Tartschen alle.
11.
Deine Brüste sind wie zwei Rehe,
Die Zwillinge einer Gazelle,
Die unter Lilien weiden.

12.
Bis der Tag kühl weht
Und die Schatten fliehen,
Möcht' ich zum Myrrhenberge geh'n,
Und zum Weihrauchhügel.
13.
Ganz bist du, meine Freundin, schön,
Und 's ist kein Fehl an dir.

14.
Komm, mit mir vom Libanon – meine Braut -
Mit mir vom Libanon dich umzuschau'n,
Vom Haupte des Amans, vom Haupt des Senir und Hermon,
Von den Schlupfwinkeln der Löwen,
Von den Bergen der Parder!

15.
Du machst mich beherzt, meine Schwester, meine Braut,
Du machst mich beherzt mit einem einz'gen deiner Augen,
Mit einem einz'gen Schmuckstück deines Halses.
16.
Wie süss ist dein Kosen, meine Schwester, meine Braut,
Wie viel köstlicher ist dein Kosen als Wein!
Und deiner Salben Duft als alle Specerei'n.
17.
Von Honigseim triefen deine Lippen, meine Braut,
Honig und Milch ist unter deiner Zunge,
Und deiner Kleider Duft ist wie Libanon-Duft.

18.
Ein verriegelter Garten bist du, meine Schwester, meine Braut,
Eine verriegelte Well', ein versiegelter Quell.
19.
Deine Gewächse bilden einen Lusthain
Von Granaten sammt edler Obstfrucht,
Von Cyperblumen sammt Narden,

20.
Von Nard' und Croeus,
Von Calmus und Zimmet,
Sammt allerlei Räucherholz,
Von Myrrh' und Aloe
Sammt all' den besten Specereien.

21.
Der Gartenquell ist ein Born lebendigen
Und vom Libanon fliessenden Wassers.
22.
Auf, Nord, komm Südwind.
Durchwehe meinen Garten, dass flüssig werden seine Düfte!
 

Sulamit:

23.
Mein Geliebter komm' in seinen Garten
Und geniesse seine edle Obstfrucht!
 

Salomo:

24.
Ich komm' in meinen Garten, meine Schwester, meine Braut,
Ich sammle meine Myrrhe sammt meinem Duftkraut,
Ich esse meinen Seim sammt meinem Honig,
Ich trinke meinen Wein sammt meiner Milch:
 

Sulamit:

Esst, Freunde, trinkt und berauscht euch, meine Lieben.
 

V. Gesang

Sulamit:

1.
Ich schlaf' und meine Sinne erwachen -
Horch! da klopft mein Geliebter:
"Thu' auf mir, meine Schwester, meine Freundin,
"Meine Taube, meine Beste;
"Denn mein Haupt ist voll Thau,
"Meine Locken voll Tropfen der Nacht!

2.
""Ich habe das Kleid schon ausgezogen,
""Wie könnt' ich's wieder anzieh'n?
""Ich habe die Füsse schon gewaschen,
""Wie könnt' ich sie wieder beschmutzen?""

3.
Da streckt durch's Fenster her mein Geliebter die Hand
Und mein Inneres wird für ihn bewegt.

4.
Ich stehe auf, dem Geliebten zu öffnen,
Und meine Hände triefen von Myrrhe
Und meine Finger von flüssiger Myrrhe
Auf die Griffe des Riegels.

5.
Ich öffne meinem Geliebten,
Doch verschwunden, fort ist mein Geliebter.
6.
Ich bin des Todes seinetwegen;
Ich suche ihn, und find' ihn nicht,
Ich ruf' ihn, und er antwortet mir nicht.
7.
Es treffen mich die Wächter, die in der Stadt umgeh'n,
Sie schlagen mich wund,
Es nehmen mir den Ueberwurf die Mauerwächter.

8.
Ich beschwör' euch, Töchter Jerusalems,
Wenn meinen Geliebten ihr findet,
Dass ihr ihm nicht sagt,
Dass ich krank bin vor Liebe!
 

Die Jerusalemitinnen:

9.
Was ist dein Geliebter vor jedem andern Geliebten,
Du schönste der Frauen,
Was ist dein Geliebter vor jedem andern Geliebten,
Dass du uns so beschwörst?
 

Sulamit:

10.
Mein Geliebter ist weiss und roth,
Vor einer Myriade ausgezeichnet.
11.
Sein Haupt ist gedieg'nes Rothgold,
Seine Locken sind Hügel auf Hügel,
Schwarz wie der Rabe,

12.
Seine Augen wie Tauben an Flussbetten,
In Milch sich badend,
Ueber Vollem sitzend,
13.
Seine Wangen wie Duftkrauthügel,
Thürme von Würzen
Seine Lippen Lilien
Von flüss'ger Myrrhe triefend;

14.
Seine Hände sind gold'ne Walzen
In Tarschischsteinen gehend,
Sein Leib ein Elfenbein-Gebild
In Sapphirn eingehüllt,

15.
Seine Schenkel Marmorsäulen
Auf goldnen Sockeln ruhend,
Seine Gestalt wie der Libanon
So ausgezeichnet wie Cedern,

16.
Sein Gaumen Süssigkeit
Und er ganz Lieblichkeit. -
So ist mein Geliebter und so mein Freund,
Ihr Töchter Jerusalems.
 

Die Jerusalemitinnen:

17.
Wohin wohl ging dein Geliebter,
Du schönste der Frauen,
Wohin wohl ging dein Geliebter?
Auch wir wollen ihn mit dir suchen.

18.
Nach seinem Garten hin ging mein Geliebter,
Nach den Duftkraut-Hügeln,
Sich an den Gärten zu entzücken
Und Lilien zu pflücken.
Meines Geliebten bin ich
Und mein Geliebter ist für mich,
Der unter den Lilien weidet.
 

Salomo:

20.
Schön bist du, meine Freundin, wie Thirza,
Lieblich wie Jerusalem,
Furchtbar wie Heldenschaaren.
21.
Wende deine Augen mir zu,
Denn sie ermuthigen mich!

22.
Dein Haar gleicht einer Heerde Ziegen,
Die am Gilead herablagern.
Deine Zähne sind wie eine Heerde von Schafmüttern,
Die eben der Wäsche  entstiegen,
Die alle Zwillinge haben
Und deren kein' ist unfruchtbar.
23.
Wie eine Granatenhälft' ist deine Wange
Hinter deinem Schleier.

24.
Ihrer sechzig sind Königinnen
Und achtzig Beifrau'n,
Und Jungfrau'n ohne Zahl.

25.
Sie allein ist meine Taube, meine Beste,
Sie allein von ihrer Mutter,
Und absonderlich von ihrer Gebärerin (Töchtern).
26.
Jungfrau'n, wann sie sie sehen, preisen sie selig,
Königinnen und Beifrau'n rühmen sie.
 

Hofleute:

27.
Wer ist die, die da herniederschaut wie das Morgenroth
Schön wie der Mond,
Rein wie die Sonne,
Furchtbar wie Heldenschaaren?
 

Sulamit:

28.
Zum Nussgarten ging ich hinab,
Zu schau'n nach des Thalgrundes Grün,
Zu schau'n, ob der Weinstock getrieben,
Ob die Granaten blüh'n.
 

Hofleute:

29.
Ich wusst' es nicht, ich glaubte mich versetzt
Zu den fürstlichen Heerwagen.
30.
Kehre wieder, kehre wieder, Sulamit,
kehre wieder, kehre wieder, dass wir dich anschau'n!
 

Sulamit:


Was wollt ihr Sulamit anschau'n wie den Reigen des Doppelheeres?
 

Salomo:

31.
Wie schön sind deine Füsse
In den Schuh'n, du Fürstentochter!
Die Rundungen deiner Hüften sind wie Halsperlen,
Die ein Werk von Künstlerhänden;

32.
Dein Schoos ist ein rundes Becken,
- Nicht mög' ihm der Mischwein fehlen! -
Dein Leib ein Weizenhaufen
Mit Lilien besteckt;
33.
Deine beiden Brüste wie zwei Rehe,
Die Zwillinge einer Gazelle;

34.
Dein Hals wie der Elfenbeinthurm,
Deine Augen Teiche in Hesbon,
Am Thor der Reichbevölkerten;
35.
Deine Nase wie der Libanon-Thurm,
Der nach Damascus hinschaut;

36.
Dein Haupt auf dir wie der Carmel
Und dein wallend Haupthaar wie ein Königspurpur,
Der in rinnendem Wasser angebunden;
37.
Wie schön bist du und lieblich,
Eine Lieb' in lauter Wollust!

38.
Dieser dein Wuchs, er gleicht der Palme
Und deine Brüste Trauben.
39.
Ich denk: hinauf zur Palme möcht' ich,
Möcht' ihr Gezweig erfassen,
Und möchten deine Brüste mir gleich Weintrauben
Und deiner Nase Hauch wie der von Aepfeln;

40.
Und dein Gaumen wie lieblicher Wein sein -
 

Sulamit:

Der meinem Geliebten grad' eingeht,
Noch lechzen macht der Schlafenden Lippen!
41.
Meines Geliebten bin ich
Und nach mir sehn' er sich.

42.
Wohlan, mein Geliebter, auf's Land lass' uns geh'n,
Auf dem Dorf übernachten,
43.
Früh aufbrechen nach den Weinbergen,
Schau'n ob der Weinstock getrieben,
Ob sich geöffnet die Weinblüthe,
Ob die Granaten blüh'n!
Dort möcht' ich dir mein Kosen weihen.

44.
Da duften die Liebesäpfel,
Und über uns'rer Thür hab' allerlei edles Obst
- So neues als jähriges -
Dir, mein Geliebter, ich aufbewahret.

45.
Ach, wärst du mein als Bruder,
Der meiner Mutter Brust gesogen!
Dich draussen treffend küsst' ich dich,
Gleichwohl verhöhnte Niemand mich.
46.
Ich brächte dich geführt in meiner Mutter Haus,
Du lehrtest mich, ich schenkte dir vom Würzwein,
Von meinem Granatenmost.

47.
Seine Link' unter mein Haupt!
Seine Recht' umfasse mich!
48.
Ich beschwör' euch, Töchter Jerusalems,
Dass ihr nicht weckt, nicht aufweckt die
Liebe, bis ihr es gefällt.
 

VI. Gesang

Hofleute:

1.
Wer ist die, die da von der Trift her sich erhebt,
Gestützt auf ihren Geliebten?
 

Sulamit:

2.
Unter dem Apfelbaum weckt' ich dich auf,
Dahin dich kreisend deine Mutter,
Dahin sie kreisend dich geboren.

3.
Halt' mich dem Siegel gleich auf deinem Herzen,
Dem Siegel gleich auf deinem Arm;
Ist stark doch wie der Tod die Liebe,
Unbeugsam wie die Unterwelt der Liebeseifer,
Ihre Gluthen sind Feuergluthen, eine Gottesflamme.
4.
Wassermassen können die Liebe nicht auslöschen,
Und Ströme schwemmen sie nicht weg.

5.
Böt' Einer auch all' seines Hauses Gut für Liebe,
Man würd' ihn nur verhöhnen.

6.
Wir haben eine Schwester, die ist klein
Und hat noch keine Brüste;
Was machen wir mit uns'rer Schwester
Des Tages, da man nach ihr fragt:
7.
"Ob sie eine Mauer?"
Bau'n wir dann um sie ein silbern Geheg?
Und "ob sie eine Thür?"
Zimmern wir dann an ihr ein Cedern-Brett?

8.
Ich bin eine Mauer und meine Brüste gleichen Thürmen,
Drum war ich in seinen Augen wie Eine, die Frieden findet.

9.
Ein Weinberg ward dem Salomo in Baal-Hamon,
Er that den Weinberg Hütern aus:
Ein Jeder sollte für dessen Frucht ihm tausend Silberlinge bringen;
10.
Mein eigner Weinberg steht unter meiner Hut;
Davon seien die Tausend, Salomo, dein,
Und zweihundert den Hütern seiner Frucht.
 

Salomo:

11.
Du Gartenbewohnerin,
Genossen lauschen deiner Stimme, lass sie mich hören!
 

Sulamit:

12.
Mein Geliebter, schnell gleich der Gazell'
Oder der Hindin-Rehen
Auf Duftkraut-Höhen!

 

Aus: Das Hohe Lied Salomo's
erklärt, übersetzt und in seiner kunstreichen
poetischen Form dargestellt
von Fr. Ed. Weissbach Leipzig 1858

 

 

 

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