Das Liebes-Poetische Manuskript N° 30

Meines Herzens Leiden fluten ...

Gina Ranjicic (1831-1891) Liebesgedichte - Vincent van Gogh (1853-1890) Bilder

 


Vincent van Gogh  (1853-1890)
Die roten Weingärten
 

Gina Ranjicic
(1831-1891)

 

Meines Herzens Leiden fluten
Gleich dem endlos weiten Meer;
Wie die Wogen aus der Ferne
Ziehen jammernd sie einher.

Hier bin ich, wohin ich nimmer
Je zurückzuziehn gedacht,
Wo dein Lächeln mir die Sonne
Und dein Leid die dunkle Nacht.
Eine Waise irrt' ich einst hier,
Elend war ich und verlassen;
Lernte hier zum ersten Male:
Gott und Menschen lieben, hassen.
Und hier brennt die alte Wunde
Meines Herzens nun auf's Neue, -
Gott! mit seinen heissen Küssen
Lindrung auf die Wunde streue! …

Meines Herzens Leiden fluten
Gleich dem endlos weiten Meer;
Wie die Wogen aus der Ferne
Ziehen jammernd sie einher.

Hab' in meinem Herzen immer
Süsse Hoffnung doch genährt!
Doch jetzt weiss ich: hin ist Alles,
Und für mich Nichts lange währt!
Dort von deinen Wangen seh' ich
Schon des Todes Boten winken,
Und die Menschen sich schon fragen:
Wann wirst du denn niedersinken?
Und ich steh' hier hilflos, feige,
Elend und verlassen!
In den Kot werd' ich getreten, -
Will von dir nicht lassen!
Wenn du stirbst, wird nur Erinn'rung
Noch mein Sein versüssen;
Trank ich aus der Liebe Becher,
Nun, so mag ich büssen!
In den Kot mag man mich treten,
Mich zu Schanden machen;
Selbst im Kote werd' die Welt ich
Hämisch stets auslachen!

Meines Herzens Leiden fluten
Gleich dem endlos weiten Meer;
Wie die Wogen aus der Ferne
Ziehen jammernd sie einher.




 

Gedicht aus: Aus dem inneren Leben der Zigeuner
Ethnologische Mitteilungen von Dr. Heinrich von Wlislocki [1856-1907] Berlin 1892
(Kapitel IX: Eine zigeunerische Dichterin S. 180-213)

 

 

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