Das Liebes-Poetische Manuskript N° 55

Hundert Küsse zu hundertmalen, hundert Küsse zu tausendmalen,
tausend Küsse zu tausendmalen ...

Die Küsse des Johannes Secundus (1511-1536)
 


Ambrogio de Predis (1455-nach 1508)
Junge Frau mit Kirschen



Fünfzehnter Kuss

Dich zu verderben bereit, holdlächelnde, süße Neära,
Stand, den Bogen gespannt, Venus Idalia's Sohn.
Als er vom goldenen Netz der Locken umflattert die Schneestirn,
Als er, bedeutenden Blick blitzend, das Aeugeleinpaar,
Als er die Wangen, die blühenden, sah, und den göttlichen Busen,
Sank das gespannte Geschoß aus der erbebenden Hand.
Stürmisch in kindlicher Hast in die Arme dir trunken sich schmiegend,
Küßte dich tausendmal, küßte dich tausendfach er.
Tief in der innersten Brust Labyrinth haucht cyprischen Balsams
Duft und den köstlichen Geist blühender Myrten sein Kuß,
Und bey aller Unsterblichen Haupt und der himmlischen Mutter
Schwöret er, nie fortan wieder dir Schmerzen zu dräun.
Und wir wundern uns noch, daß ambrosischen Odem dein Kuß haucht,
Daß, Grausame, du nie lieblicher Liebe erliegst?



 

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Übersicht

Gedicht aus: Die Küsse des Johannes Secundus
München Hyperion Verlag 1920
In der Übersetzung von Franz Passow [1786-1833]
(nach der Ausgabe Leipzig 1807)
(S. 43)
 


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