Wilhelm Raabe (1831-1910) - Liebesgedichte



Wilhelm Raabe
(1831-1910)


Inhaltsverzeichnis der Gedichte:
 

 



Sprang der Osterhas
Durch die grünende Welt;
Kinder und Verliebte
Suchten im sonnigen Feld.

Welch' ein schönes Nest
Hat mein Liebchen entdeckt!
Unterm Veilchenbusch
Fein war es versteckt.

Viele schöne Eier
Lagen glänzend drin,
Und mein jubelndes Liebchen
Kauerte neben es hin.

"Eier rosenrot!
Eier himmelblau!
Keins von ihnen schwarz!
Keins von ihnen grau!"

Die rosenroten
Waren voll Küsse,
Die himmelblauen
Waren voll Lieder -
Und Dämmerung ward es
Eh' wir nach Haus kamen.
(S. 318)
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Belagerte Stadt

I.
Was kündet am nächtlichen Himmel
Der rote Feuerschein?
Dort bricht durch Blut und Flammen
Der wilde Feind herein!

Das jammernde Volk vom Lande
Strömt zu den schützenden Mauern;
Es kommen Reiche und Arme,
Es kommen Edle und Bauern.

Sie schleppen die Greisen, die Kranken,
Die Kinder, die Herden zur Stadt; -
Ist's nicht, als ob die Sündflut
Die Welt verschwemmet hat?

Die Weiber in den Kirchen
Auf den Knien früh und spat,
Die Männer auf den Mauern,
Die Ratsherrn stets im Rat!

Von den Türmen Sturmesglocken,
Vom Walle Schuß auf Schuß!
Und wir - im Häuslein am Tore,
Wir tauschen - Kuß um Kuß!

Das Feuerrohr lehnet im Winkel,
An der Hüfte klirrt das Schwert, -
Ein Kuß in solchen Zeiten
Ist tausend Küsse wert!


II.
In meines Liebchens Kammer,
Da ist das Fensterlein
Versponnen und verhangen
Vom grünen wilden Wein.

Die Scheiben sind zerbrochen,
Die Ranken sind zerfetzt;
Denn vor den Mauern und Wällen
Liegen die Feinde jetzt.

Aus den Gräben, von den Türmen
Feuer und Feldgeschrei!
Mein Handrohr und mein Liebchen
Sind wacker mit dabei.

Auf jeden Schuß die Antwort:
Wir halten's noch lange aus!
Auf jeden Kuß ein Küßchen -
Ihr Feinde, geht nach Haus!

Mein Liebchen reicht die Kugeln,
Reicht mir ihren roten Mund;
Das ist ein wonnig Küssen
Zu solcher bösen Stund.

Mein Liebchen reicht die Lunte,
Preßt mir dabei die Hand,
Und blitzt das Pulver vom Zündloch
Drückt sie sich an die Wand.

Es zittert und bebt der Boden!
Es wankt und schwankt das Haus!
Sie rücken heran zum Sturme -
Hinaus, auf die Mauer hinaus!

Mein Liebchen schützt ihr Röcklein,
Mit Kugeln die Schürze sie füllt -
Torwächtermaid auf dem Walle
Wohl tausend Landsknechte gilt!


III.
Herr Jörg, der Bürgermeister,
Weiß gut den Kolben zu führen;
Die lahme Liesel vom Kirchplatz
Weiß gut das Pflaster zu schmieren. -

Die toten Freunde nach Haus!
Die toten Feind in den Graben!
Das war das dritte Stürmen:
Sie wollten's nicht besser haben.

Hei Lieb, wisch ab die Trän'!
Hei Lieb, schenk güldnen Wein!
Was kümmert's zu solcher Stund',
Fällt ein Tropfen Blut hinein?

Hei, wie die Äuglein leuchten!
Wie leuchtet der Wein im Glas!
Ein Trunk zu solcher Stunde
Wiegt auf manch volles Faß!


IV.
Zehntausend Knechte geworben -
Wie ist ihr Mütlein gekühlt!
Fünftausend Knechte verdorben -
Sie ha'n das Spiel verspielt.

Sieg, Brüder! Jesus das traf -
War das der letzte Schuß?
O Lieb, verlaß mich nicht!
O Lieb, den letzten Kuß!

O Lieb, das ist der Tod -
Faß mich in deinen Arm!
Gerettet, gerettet die Stadt!
O Lieb, tu dir kein Harm!

O Lieb, die Stadt gerettet!
O Lieb, nimm hier mein Schwert -
Solch Tod in deinem Arm
Ist wohl das Leben wert!
(S. 321-324)
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Die schönste Blum' im Garten mein,
Die hat der Sturm zerbrochen;
Das schönste Wort im Herzen dein,
Ist in den Wind gesprochen!
O falsche Lieb, o böse Lieb!
Was von der Welt noch übrigblieb,
Ist eitel Trauer und Grämen!
(S. 326)
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Was läuten die Glocken im Lande?
Der Kaiser ist gestorben!
Was läutet mein Herz im Leibe?
Die Liebe ist verdorben!

Die Glocken dumpf erklingen,
Zu Grab sie den Kaiser bringen:
O du toter Rudolfus, bitt' -
Nimm doch meine Liebe mit!
(S. 327)
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Mädchen am Ofen
Sitzet und spinnet:
Dichter im Winkel
Sitzet und sinnet -

Dämmerung draußen,
Dämmerung d'rin:
O wie voll ist mein Herz!
O wie schwer ist mein Sinn!

Spule surrt -
Rädchen schnurrt -
Dämmrungsgedanken!
Mädchentraum
Dichtertraum
Wachsen und ranken -

Amor, ach Amor,
Schnell tritt herein
Bring uns Licht! Bring uns Licht!
Danken's dir fein!
(S. 331)
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Ein wilder Sturm
Faßt mich und hebt mich,
Trägt mich empor
Über Menschenschicksale
Und Menschenweh!
Völker und Könige
Kämpfen da unten
Auf der kleinen Erde
Ihre kleinen Leiden! . . .

Aber ich, dem die Götter
Die herrlichste Krone,
Die Krone der Liebe
Auf die träumende Stirn drückten:
Über den Wolken,
Über den Wettern
Streck ich die Hand aus
Und aller Kampf
Und aller Schmerz
Und aller Zwiespalt
Im Himmel und auf Erden,
Über mir, unter mir
Wird Harmonie,
Wird seliger Friede,
Wird schönste Ruhe.
(S. 333)
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Ich weiß im Wald ein kleines Haus,
Weitab vom Pfad gelegen;
Da schaut ein Mägdlein schmuck heraus:
"Gruß dir auf deinen Wegen!"

Im kleinen Haus das Mägdelein
Hat Augen hell und klare,
Die Lippen rosig und küßlich sind,
Und goldig glänzen die Haare.

"Mein Jäger jung, mein Jäger fein,
Tut nur vorüberfahren,
Ich fang Euch doch mit den Augen mein,
Bind Euch mit meinen Haaren!"
(S. 335)
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Buch zu!

Da liegt auf meinem Bilderbuch
Die weiße duftende Rose;
Feinsliebchen sie am Herzen trug
Und warf sie in's Fenster mir lose.

Feinsliebchens Stimm' im Garten klingt,
Wo sind die Gedanken geblieben?
Wenn's regnet und schneit der Dichter singt;
Im Sonnenschein kann er nur lieben!
(S. 339)
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Es hat geschneit die ganze Nacht,
Bis an den grauen Morgen;
Es hielt 'ne traurige Totenwacht
Mein Herz in Not und Sorgen.

Es hielt mein armes Herze Wacht
Wohl über der toten Liebe;
Es hat geschneit die ganze Nacht
Bis an den Morgen trübe.

Ja gestern war die Erd' so grau,
Die Welt war abgestorben:
Nun legte das Tuch die Leichenfrau,
Man merkt nicht, was verdorben!
(S. 340)
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Die Nacht, die Nacht ist still und mild,
Nun kommt der Morgen bald!
Mein Herz, mein Herz ist krank und wild, -
So reit ich durch den Wald.

Und neben mir und hinter mir
Und vor mir drängt das Heer;
Aus Blut und Flammen kommen wir
Es rasselt Schild und Speer.

Ja gestern in der blutgen Schlacht,
Im hellen Sonnenschein,
Da hat mein Herze wohl gelacht,
Da mocht' gesund es sein!

Die Nacht, die Nacht ist still und lind,
Im Osten wird es licht.
Die Stirne küßt der Morgenwind,
Das Herz, das Herz zerbricht!
(S. 341)
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Am Tage Sankt Johannis,
Wie lag die Welt in Sonne!
Am Tage Sankt Johannis,
Wie schlug mein Herz in Wonne!

Es zog ein fröhlich Klingen
Wohl über die grüne Heide:
Schön Lieb mit hellem Singen
Schritt her im Festtagskleide.

Sie hielt ein schwarzes Büchel
Voll gold'ner, frommer Lieder;
Dazu ein weißes Tüchel
Gefaltet vor dem Mieder.

Ringsum die Blumenglocken
Aus Näh und Ferne grüßten
Rot Röslein in den Locken,
Weiß Röslein vor den Brüsten.

O selig Sommerleben!
Rot Röslein raubt ich lose!
Drauf hat sie mir gegeben
Auch noch die weiße Rose.

Am Tage Sankt Johannis,
Wie lag die Welt in Sonne!
Am Tage Sankt Johannis,
Wie schlug mein Herz in Wonne!
(S. 342)
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"Ein Briefelein
An meinen Schatz
In weiter, weiter Ferne,
Das schrieb' ich fein
Und legte drein,
Was ich ihm gäb' so gerne:
An jedes Ecklein
Einen Kuß,
Und in die Mitte
Tausend Gruß,
Viel Bangen, Hoffen, Seufzerlein,
Mein ganzes, ganzes Herzelein -
Eia, eia, ei, ei, eia!"
(S. 347)
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O Lieb, o Lieb, blas' auf die Flamm',
Das Hoffen laß nicht fahren;
Und kommen wir heut' nicht zusamm',
Geschieht es wohl nach Jahren!

Am Morgen, wann die Winde wehn,
Rührt's Blättlein sich am Baume,
Und wann im Dorf die Hähne kräh'n,
So fahr ich aus dem Traume.

Wie Windhauch ist die Liebe mein',
Regt alle mein Gedanken,
So um das süße Herze dein
Sich schlingen und sich ranken.

O Lieb, o Lieb, blas' auf die Flamm',
Das Hoffen laß nicht fahren;
Und komm' wir heute nicht zusamm',
Geschieht es doch in Jahren!
(S. 348)
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"Ich träumte so holden,
So seligen Traum;
Drin baut' ich ein Schloß
In den Himmelsraum.

Drin baut' ich ein Schloß
Aus Edelgestein
Und setzte den Liebsten
Als König darein.

Doch als die Sonne
Zur Höhe sich hob,
Der schöne Traum
Im Lichte zerstob.

Mein Liebster ist fern,
Er ist nicht allhier;
O Sonne, o Sonne,
Was leuchtest du mir?

Gott grüße dich Abend,
Gott grüße dich Nacht;
Ihr habt mir den Traum
Und das Glück gebracht!"

"Gott grüße dich Abend,
Gott grüße dich Nacht,
Die Liebe zu Liebe
Zurück ihr gebracht!"
(S. 349)
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Abschied

Laut rief das Horn zum Scheiden,
Wir mußten's eben leiden,
Zu End' war unser Glück;
Schon ritten die Genossen
Und schauten von den Rossen
Nach ihr und mir zurück.

Herz tat an Herzen klopfen,
Es fiel ein heißer Tropfen
Herab auf meine Hand.
Das Schwert erklang zur Seiten;
O Lieb nun muß ich reiten
Es gilt für's Vaterland!

Sie faßte mich nur enger,
Sie klagete nur bänger:
Du reitest in den Tod!
Du reitest in's Verderben,
Und mit dir muß ich sterben -
O Vaterlandes Not!

Der Rappe zog am Zügel,
Der Fuß stand in dem Bügel:
Ade, du süße Braut!
Fort, fort, im wilden Jagen,
Tät drauf mein Roß mich tragen -
Hab' mich nicht umgeschaut!
(S. 363)
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Meinen Liebsten sie haben gefangen gebracht,
Sie führeten zwischen den Pferden ihn hin;
Und sie ritten von zwei bis zu vier in der Nacht,
Dem Hufschlag, dem Hufschlag gefolget ich bin.

Und sie ritten bergauf, und sie ritten talein,
Die Nacht war so dunkel, kein Sternlein gab Licht;
Dem Hufschlag ich folgt über scharfes Gestein,
Durch Dornen und Distel und spürte es nicht.

Was Dornen und Distel und scharfes Gestein?
Was Nachtwind und Regen und höhnendes Wort?
Wohl schlug mir das Herz zu schlimmerer Pein,
Sie führten den Liebsten in Ketten mir fort.

Und sie ritten wohl über die hallende Brück
Da konnt ich dem Hufschlag nicht folgen mehr;
Wild stießen sie mich von der Pforte zurück
Und kreuzten darüber die eiserne Wehr.

Wohl rauschen die Wasser die ganze Nacht,
Wohl hämmert das Herze und wird nicht still;
Und wird er am Morgen hinaus nun gebracht,
Bis zum Tod, in den Tod ich ihm folgen will.
(S. 364)
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Auf alle Höhen
Da wollt' ich steigen,
Zu allen Tiefen
Mich niederneigen.
Das Nah und Ferne
Wollt' ich erkünden,
Geheimste Wunder
Wollt' ich ergründen.
Gewaltig Sehnen,
Unendlich Schweifen,
Im ew'gen Streben
Ein Nieergreifen -
Das war mein Leben.

Nun ist's geschehen; -
Aus allen Räumen
Hab ich gewonnen
Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen
Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen
Weltweite Dinge.
Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben,
Goldzauberkreise -
Ist nun mein Leben.
(S. 371)
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Der Hagedorn

I.
Er ritt vorbei, sie stand am Hag,
Die Frühlingssonn' auf den Feldern lag,
Die Frühlingssonne lag auf den Höhn
Und er war jung, und sie war schön;
Der Hagedorn stand in der Blüte.

Das Haupt er neigte, schwang den Hut:
Gott grüß dich, du fromm, du edel Blut
Gott grüße, halte, schütze allzeit
Dich fremdes Tal, dich, holde Maid!
Der Hagedorn stand in der Blüte.

Mit Lachen sie nickt', den Hut er schwang
Und horchte im Reiten ihrem Sang,
Bis in der Ferne so leise, leis'
Verhallte die alte, die süße Weis':
Der Hagedorn steht in der Blüte.

Das Herz war ihm so leicht, so licht,
Die Schatten sah er auf den Wiesen nicht,
Die Wolkenschatten nicht über dem Land,
Und in den Wald der Weg sich wandt;
Der Hagedorn stand in der Blüte.


II.
Und nach so manchem langen Jahr,
Da ritt er her mit der reisigen Schar,
Da wehten die Winde so schaurig und kalt,
Da stand entlaubt und schwarz der Wald;
Der Hagedorn stand in Dornen.

Auf Feld und Wiesen lag der Schnee,
Von Eise starrte Fluß und See,
Und Eisen deckte des Mannes Brust,
Aus war der Frühling, die Jugendlust;
Der Hagedorn stand in Dornen.

Es saß ein Mütterlein am Hag; -
O Tal, wo hast du das Mägdlein, sag?
Das Weiblein nickte, nickte und sang
Und eisig die Weise zum Herzen drang:
Der Hagedorn steht in Dornen.

Es schnoben die Rosse im Zuge schwer,
Die schwarzen Raben flatterten her;
Im eisernen Harnisch vorbei er ritt
Und gell das Lied in's Herz ihm schnitt:
Der Hagedorn steht in Dornen.
(S. 372-373)
_____



Das Reh

Im Mondlicht schimmert der stille See
Aus Waldnacht schlüpfet das scheue Reh;
Das Hälschen es biegt, das Köpfchen es wiegt,
Es tritt an die flimmernden Fluten.

Im Dunkel lehnend am Eichenbaum,
Im Wachen halb und halb im Traum
Lausch ich dem Bild so süß und mild
Und denk eines andern Bildes.

Und einen glänzenden Saal schau ich
Und in dem Saal o Liebchen dich
Das Hälschen du biegst, das Köpfchen du wiegst
Und schwebst durch die schimmernden Reihen.

Und mitten im düstern, stillen Wald
Ganz fern wie Geig und Horn es schallt
Und wilder Schmerz durchzuckt das Herz,
Das Feuerrohr an die Wange!

Ein roter Blitz in das Mondenlicht
Todwund das Reh zusammenbricht
Der Wald erwacht, der Schütze lacht, -
Es ist ein schaurig Lachen.
(S. 374)
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Stella maris

Wie sich des Lebens Wogen
Erheben hoch und wild,
Glänzt mir die Tramontana
Feinsliebchens süßes Bild.

Ob auch die Wogen reißen
Mein Schifflein ab und auf
Zu einem Stern so helle
Blick aus der Angst ich auf

Die schwarzen Wolken jagen
Verlöschen jedes Licht
Den Mond und alle Sterne
Den einen Stern doch nicht

Gegrüßt sei "Stern des Meeres",
Gegrüßt in jeder Not
Dein Leuchten ist das Leben
Dein Sinken wär der Tod.
(S. 377)
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Sommernacht

Es dunkelt in deinem Garten,
Die Blumen schlafen ein,
Der Mond will heut nicht kommen
Und auch kein Sternelein.

Es dunkelt in deinem Garten,
Es liegt die Welt im Traum;
Komm, in dem großen Träumen
Findt' auch die Liebe Raum.

Es dunkelt in deinem Garten,
Liebchen, erschein, erschein!
Tritt leise, tritt ganz leise
In heiligste Nacht hinein!

Im großen Weltentraume,
Da sind wir auch ein Bild;
Es dunkelt in deinem Garten,
Liebchen, komm süß und mild!

Komm, komm es geht ein Leuchten
Hin an dem Himmelssaum,
Komm, Liebchen, komm, es lächelt
Die Weit in ihrem Traum!
(S. 378)
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Dem kühnen Seemann gleich ich bin,
Steuernd mein Herz durch wonn'ge Nacht,
Hoffend auf seligsten Gewinn,
Trauend auf neuer Sterne Macht.

Ja, fremder Lichter fremder Lauf,
Sternbild der Liebe himmlisch hehr,
Stieg mir zu Häupten glänzend auf,
Zieht seine Bahnen vor mir her.

Nun schwebt mein Herz in Wonnen hin
Durch fremde, nie geahnte Pracht;
Ob ich im Traum, im Wachen bin,
Wer sagt mir das in solcher Nacht?

Wie ist mein Himmel sternenvoll!
Wie ist mein Leben überreich!
Und wenn ich morgen scheitern soll,
Den ew'gen Göttern bin ich gleich!
(S. 380)
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Glockenklang

I.
Über die grünen Halme
Geht leis' der Glockenklang,
Verhallend, verwehend
Das Feld, den Wald entlang.

Da drunten in dem Städtlein
Ists morgen Feiertag;
Es rief es, es ruft es
Ein jeder Glockenschlag.

Der Turm von Sankt Marien
Die Mär begonnen hat,
Einfielen die Stimmen
Der ganzen, ganzen Stadt.

Die Lerchen in den Lüften,
Die nahmen auf den Schall;
Nun singt es im Walde
Die süße Nachtigall.

Da drunten in dem Städtlein
Ist morgen Feiertag;
Das rufen die Glocken,
Das sagt des Herzen's Schlag.


II.
In all' der Glocken
Rufen und Locken;
In all' dem Schwingen
Summen und Klingen,
Dem Leiseverhallen,
Dem Wiedereinfallen,
Dem Sinken und Steigen,
Dem Schweben und Neigen
Faßt meine Seele, trägt sie empor
Einzelnste Stimme im vollesten Chor.

Eine vor allen
Hör ich erschallen -
Eherne Zunge,
Die da im Schwunge,
So wild und so klangvoll,
So mild und so sangvoll
Über der Liebsten Haus
Tönt in die Welt hinaus,
Hebt meine Seele in's Abendrot
Aus Erdendämmerung, aus Erdennot.

Über der Klänge
Wogend Gedränge,
Über das Ringen,
Singen und Klingen,
Hoch über das Dröhnen,
Das Klagen und Stöhnen
Trägt mich ein Klang
Jauchzend und bang,
Trägt mich die Glocke von Sankt Marie,
Lauterste Stimme des Wohllautes sie!

Diese vor allen
Hör ich erschallen;
Diese alleine
Im Klangvereine
So jubelnd, so klagend,
So himmelwärts tragend,
So süß und so rein,
So voll und so fein;
Sancta Felicitas nenn ich sie,
Glocke der Liebe vom Turm Sankt Marie!


III.
Nun grüßten sich über dem Walde
Der Mond und die rote Sonn;
Emporsteigt der Nebel, es dunkelt,
Im Dickicht murmelt der Bronn.

Es murmelt und rauschet der Bronne,
Längst sind die Glocken verhallt;
Doch fort durch den Wald und das Dunkel
Die eine Stimme schallt.

Ich hör' sie im Wachen, im Traume,
Sie kann verklingen mir nie,
Die eine, die süßeste Stimme,
Die Glocke der heil'gen Marie.

Die Glocke von Sankt Marien
Hoch über der Liebsten Haus
Tönt über die Welt und das Leben,
Hallt über den Tod hinaus!
(S. 394-396)
_____




Es ist ein eigen Ding
Zu sitzen und zu lauschen
Wenn draußen vor der Tür
Die schwarzen Tannen rauschen
Wenn Tropf auf Tropfen klingt
Hernieder von dem Dach
Und jeder leise Klang
Ein altes Bild ruft wach
Wenn von dem Bergeshang
Den Schnee die Windsbraut fegt
Und auf dein träumend Herz
Die Hand die Liebe legt.
Das Feuer schilt und murrt
Im Winkel pickt die Uhr
Träumend der Jagdhund knurrt
Verweht wird jede Spur
Von deinem Fuß da drauß
Da draußen in dem Schnee
Nun ist die Welt dein Haus
(S. 397)
_____


Aus: Wilhelm Raabe Sämtliche Werke
Band 20: Hastenbeck / Altershausen / Gedichte
Bearbeitet von Karl Hoppe
Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 2001
 


Biographie:

https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Raabe



 

 


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