Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Friedrich Rückert 1819)



Ich sah, wie auf zur Sonne sich schwang ein Adelaar,
Und wie im Schatten girrte ein Turteltaubenpaar.

Ich sah, wie Wolkenherden der Ost am Himmel trieb,
Und auf der Flur dem Hirten sich stellten Lämmlein dar.

Ich hörte Sterne fragen: wann sollen wir entstehen?
Und Keim' im Körnchen: sollen wir schlafen immerdar?

Ich sah ein Gras am Morgen erblühn, und vor der Nacht
Verblühn, und Cedern trotzen den Stürmen tausend Jahr.

Ich sah des Weltmeers Wogen, wie Kön'ge, schaumgekrönt,
Vorm Fels sich niederwerfen, wie Beter am Altar.

Ich sah ein Tröpflein funkeln, Juwel am Sonnenstrahl.
Das, aufgeglüht zu werden, nicht scheute die Gefahr.

Ich sah im Menschenwimmeln sich Städt' und Häuser baun;
Und Hügelein zu häufen sich mühn Ameisenschar.

Ich sah das Roß des Krieges zertreten Stadt und Land,
Daß seine Hufe wurden vom Blute rosenfar.

Ich sah den Winter weben aus Flocken ein Gewand
Der Erde, die der Frühling verlassen nackt und bar.

Den Webstuhl hört' ich sausen, der Sonnenschleier wob,
Und sah ein Räuplein weben sein Grab aus Fädlein klar.

Ich sahe Groß und Kleines, und sah auch Kleines groß;
Denn Gottes Gleichnis sah ich in allem, was da war.
 

 

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