Maulana Dschelaleddin

Rumi

(1207-1273)

(in der Übersetzung von Friedrich Rückert 1819)



Meiner Seele Morgenlicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Meiner Liebe Traumgesicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

Leben ist, wohin du blickst, Tod, wo du dich wendest ab;
Hier, wo Tod mit Leben ficht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

Ich bin Ost, in dem du auf-, West, in dem du untergehst,
Licht, das meine Farben bricht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

Ich, dein Bettler, bin der Fürst, dein Gefangner, ich bin frei,
Meine Lust ist meine Pflicht; sei nicht fern, o sei nicht fern!

Sieh' wie mich der Turban schmückt, mich der Parsengürtel ziert,
Wie mich Kutt' und Strick umflicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

Feuerdiener und Brahman, Christ und Muselman bin ich,
Du bist meine Zuversicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

In Pagoden, in Moscheen, und in Kirchen, mein Altar
Ist allein dein Angesicht; sei nicht fern, o sei nicht fern!

Ew'ger Mittelpunkt der Welt, mit Gebet umkreis' ich dich,
Weich' aus deinem Kreise nicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!

Weltgericht und Seligkeit, Seligkeit ist, wo du nahst,
Wo du weggehst, Weltgericht; sei nicht fern, o sei nicht fern!

O Weltrose, dich hervor bringen wollend, sieh, wie rings
Aus Herzknospen Sehnsucht bricht; sei nicht fern, o sei nicht fern!

Hör, wie gellend in der Nacht, Rose, jede Nachtigall
Laut aus meiner Seele spricht: sei nicht fern, o sei nicht fern!

Die Beschwörung, der du nie widerstehn, o Liebe, kannst,
Ist Dschelaleddin's Gedicht: sei nicht fern, o sei nicht fern!
 

 

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