Sonntags bei Sören

Aus den Tagebüchern von Sören Kierkegaard (1813-1855)

 




6. Nov. 1837
Das Apriorische im Glauben, das über allem Aposteriori des Handelns schwebt, ist so schön ausgedrückt in den Worten: Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn. Wie sein Glauben ihn auf einen über alle Empirie erhabenen Felsen stellt, während er doch andererseits unmöglich diese ganze hier ausgedrückte Empirie durchlebt haben kann.
(S. 84)
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14. Sept. 1835
Unglück knüpft die Menschen nicht bloß zusammen, sondern bringt auch jenes schöne innere Zusammenleben hervor, gleichwie die Winterkälte Figuren auf die Fensterscheibe bildet, die die Sonnenwärme auslöscht.
(S. 44)

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10. Juni 1836
Ein Wandermusikant blies auf einer Art Rohrflöte [ich konnte nicht sehen, was es war, da ich in einem anderen Hof war] das Menuett aus Don Juan, und der Apotheker zerstieß sein Medikament im Mörser, und das Mädchen scheuerte im Hof, und sie merkten nichts, und der Flötenspieler vielleicht auch nicht, und ich fühlte mich so wohl.
(S. 53)
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9. Juli 1837
Eine jede Blume meines Herzens wird zu einer Eisblume.
(S. 76)
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1848
Christus sagt: dem, der mich liebt, werde ich mich offenbaren. Aber das gilt überall, das, was man liebt, das offenbart sich einem; oder, welcher die Wahrheit liebt, ihm offenbart sie sich . . . denn man denkt sich gerne den Empfänger unwirksam und dann das Offenbarende sich ihm mitteilend, aber das Verhältnis ist, daß der Empfänger der Liebende ist, so wird das Geliebte ihm offenbar, denn er bildet sich selber um in Gleichheit mit dem Geliebten, und selbst zu werden, was man versteht, ist die einzige gründliche Weise zu verstehen, und man versteht nur im Verhältnis, wie man selber es wird.
Man sieht übrigens hier, daß lieben und erkennen wesentlich gleichbedeutend ist; und wie lieben bedeutet, daß das andere offenbar wird, so bedeutet es natürlich auch, daß man selber offenbar wird. Das Verhältnis ist so innerlich [ein Sein oder Nichtsein], daß alle Versicherungen und ähnliches, daß man liebe und liebe, weder dazu noch davon tun.
(S. 308-309)
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1850
Gewissensfreihet, Glaubensfreiheit
Im Ideal gesehen, kann es sehr wahr sein, daß jedem Menschen Gewissensfreihet, Glaubensfreiheit u. ä. eingeräumt werden soll.
Aber wie weiter - wo sind denn die Menschen, die geistig so stark sind, daß sie sie gebrauchen können, wirklich vermögen, absolut allein zu stehen, allein mit Gott?
Hier liegt das Unwahre, die demagogische Schmeichelei, daß da geredet wird, als wäre jeder Mensch ein solcher Kerl - wenn da nur kein Zwang, kein Gesetz, wäre. Herr, mein Gott! Nein, die Wahrheit ist die: Jeder, der in dem Grad Subjektivität ist, daß er absolut allein mit Gott und seinem Gewissen sich beratschlagt und das aushalten kann, er fragt keinen Deut, ob Gesetze oder Verordnungen dagegen da sind oder nicht, für ihn ist so etwas nur Nährboden. Ja, ist er in Wahrheit der Große, so wünscht er sich sogar allen möglichen Widerstand, damit er nicht irrefahre oder fehlgreife - denn daß Verordnungen von Menschen ihn zu zwingen vermögen sollten, nein, das fürchtet er nicht, das weiß er mit Gott und seinem Gewissen, daß er das nicht braucht.
Aber man will Verbot, Zwang u. ä. weg haben, um so das Spiel zu spielen, daß wir solche Satanskerle seien, die so allein stehen können.
Nimm allen Zwang fort, welchen die Menschen just brauchen und eben gerade auch in den höchsten Angelegenheiten [und vernünftigerweise beständig mehr, je höher die Angelegenheit ist] - und die Masse der Menschen wird entweder zu nichts oder in die Hände von Parteien u. ä. fallen.
(S. 445-446)
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1850
Wie oft habe ich es entwickelt, daß Hegel im Grund den Menschen zum Heiden macht, zu einem mit Vernunft begabten Tiergeschlecht. Denn in einem Tiergeschlecht ist niemals "der Einzelne" höher als das Geschlecht. Das Menschengeschlecht hat die Merkwürdigkeit, just weil jeder Einzelne nach Gottes Bild geschaffen ist, daß "der Einzelne" höher ist als das "Geschlecht".
Daß dieses eitel genommen und entsetzlich mißbraucht werden kann: concedo. Aber Christentum ist das. Und hier eigentlich soll die Schlacht geschlagen werden.

(S. 404)

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1848
Es ist eine gefährliche Sache, in der Ewigkeit anzukommen mit Möglichkeiten, die man selber verhindert hat, zur Wirklichkeit zu werden. Die Möglichkeit ist ein Wink von Gott. Ihr soll man folgen. Die Möglichkeit zum Höchsten ist in jedem Menschen, ihr soll er folgen. Will Gott es nicht, so laß ihn es verhindern, aber selber muß man sich daran nicht verhindern. Ich habe im Vertrauen auf Gott gewagt, aber es glückte mir nicht: darin ist ja Friede und Ruhe und Gottes Vertrautheit. Ich habe nicht gewagt: das ist ein höchst unseliger Gedanke, eine Plage für die ganze Ewigkeit.
(S. 302)
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1851
Ein Apostel in unserer Zeit.
Dächte ich mir einen solchen in unserer Zeit, er würde sich ganz des Predigens enthalten, um wenn möglich die Aufmerksamkeit auf das Existieren hingelenkt zu bekommen . . .
Man kastriert einen Menschen, um ihn zu einem Sänger zu machen, der so hohe Töne nehmen kann, wie kein natürlicher Mensch es kann: so sind auch diese Redner, christlich verstanden, Kastraten, der eigentlichen Manneskraft beraubt, die das Existentielle ist, aber den Ton können sie so hoch nehmen, so hinreißend usw., wie kein wahrer Christ es kann.
(S. 462)
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1850
Auch dieses ist mir eine unerklärliche Form von Geistlosigkeit, wie ein Mensch so auf Tag und Stunde einen bestimmten Eindruck von dem Religiösen haben kann: an Weihnachten Weihnachtsfreude und so überhaupt nicht an den Karfreitag denken, am Karfreitag tief trauernd und so überhaupt keinen anderen Eindruck haben. Das ist der beste Beweis dafür, daß einem das Religiöse etwas ganz und gar Äußerliches ist.
(S. 400)
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31. Aug. 1837
Welcher Typus für die Geschichte des menschlichen Herzens ist doch der Zug bei den Juden, daß sie, da es ihnen verkehrt ging in der Welt, die Hoffnung auf einen Erlöser entstellend, einen irdischen Messias erwarteten? Wie erinnert das an die vielen Träume von Geld, das heilen und beruhigen soll, von einer glücklichen Ehe, vom Unterkommen in einem bestimmten Amt, Karriere usw. Jeder Christ hat auch seinen irdischen Messias gehabt.
(S. 80-81)

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1844
Eigentlich ist Gott terminus medius in allem, was ein Mensch sich vornimmt; der Unterschied zwischen dem religiösen und dem bloßen Menschen ist, daß dieser letzte nichts davon weiß - darum ist das Christentum die höchste Verbindung zwischen Gott und Mensch, weil es eben dieses zum Bewußtsein gebracht hat.
(S. 164)

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1849
Darin hat Luther wieder völlig recht. Den Glauben kann niemand sehen, er ist ein Unsichtbares, so daß keiner entscheiden kann, ob ein Mensch den Glauben hat. Aber der Glaube soll erkannt werden an der Liebe. Nun hat man ja freilich wieder die Liebe zu etwas Unsichtbaren machen wollen, aber dagegen würde wohl Luther mit der Schrift protestieren; denn christlich ist die Liebe Liebeswerk. Es ist eigentlich ein unchristlicher Begriff von Liebe, daß sie ein Gefühl sei oder ähnliches. Das ist nämlich die ästhetische Definition, paßt deshalb auch auf das Erotische und alles solches.  Aber christlich ist Liebe Liebeswerk. Christi Liebe war nicht ein innerliches Gefühl und das tiefe Herz usw., sondern sie war das Werk der Liebe, das sein Leben war.
(S. 357)
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1845
Die Sünde in einem Menschen ist gleich dem griechischen Feuer, das nicht gelöscht wird mit Wasser - hier nur mit Tränen.
(S. 169)
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1844
Die Menschen scheinen nicht die Sprache empfangen zu haben, um die Gedanken zu verbergen [Talleyrand, und vor ihm schon Young in den Nachtgedanken], sondern um zu verbergen, daß sie keine Gedanken haben.
Die Aufgabe ist nicht, wie die Dummheit der Menschen meint: das Christentum vor den Menschen zu rechtfertigen, sondern: sich selbst zu rechtfertigen vor dem Christentum.
(S. 163)
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8. Dez. 1837
Ich habe so oft nachgedacht, ob ich, wenn ich Gott dankte für etwas, ob es da mehr die Furcht war, es zu verlieren, die das Gebet abpreßte, oder ob es mit der religiösen Sicherheit geschah, die die Welt überwunden hatte.
(S. 85)
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12. Mai 1839
Ich sage von meinem Leid, was der Engländer von seinem Hause sagt: mein Leid ist mein castle.
(S. 108)
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1841
Und in Wahrheit, es gibt im Leiden eine Gemeinschaft mit Gott, einen Pakt der Tränen, der an und für sich so sehr schön ist.
(S. 134)
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1843
Je mehr ein Mensch über einen andern erhöht ist, den er liebt, desto mehr wird er [menschlich gesprochen] sich versucht fühlen, ihn zu sich heraufzuziehen; aber desto mehr wird er [göttlich gesprochen] sich bewegt fühlen, zu ihm hinabzusteigen. Das ist die Dialektik der Liebe. Sonderbar genug, daß man dies im Christentum nicht gesehen hat, sondern beständig von Christi Menschwerdung gesprochen hat als einem Mitleiden oder als einer Notwendigkeit.
(S. 140)
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1846
Das, was gerade die Wissenschaft so schwierig macht, übersieht man ganz. Man nimmt an, daß jeder, und so auch der Mann der Wissenschaft, wisse, was er [ethisch] in der Welt tun soll - und nun opfert er sich für seine Wissenschaft. Aber die ethische Besinnung selber war ja das, was zuerst hätte getan werden müssen - und so würde vielleicht die ganze Wissenschaft stranden. Sein persönliches Leben hat da der Mann der Wissenschaft in ganz anderen Kategorien als sein wissenschaftliches, aber eben jene ersten waren ja die wichtigsten. Der Mann der Wissenschaft betet z. B. - und sein ganzes Streben hat es nun eilig damit, Gottes Dasein zu beweisen. Aber wie kann er denn innerlich beten, wenn sein Wesen zersplittert ist in diesem Selbstwiderspruch. Und wenn er innerlich betet, so fragt es sich, wie er von seinem Beten übergeht zu der Beschäftigung mit seiner Wissenschaft, es fragt sich, wie er als Mann der Wissenschaft sich selbst versteht im Beten, und wie er als Betender sich selbst versteht, ein Mann der Wissenschaft zu sein.
(S. 183-184)
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1843
Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß. Welcher Satz, je mehr er durchgedacht wird, eben damit endet, daß das Leben in der Zeitlichkeit niemals recht verständlich wird, gerade weil ich in keinem Augenblick völlige Ruhe bekommen kann, um die Stellung einzunehmen: rückwärts.
(S. 157)
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1850
Der Mann - das Weib
. . . Und verglichen mit dem Mann hat das Weib immer wesentlich mehr von dem, was gewiß nun einmal wie darauf berechnet ist, einem Menschen Scherereien zu machen und ihn unglücklich zu machen in dieser Welt, aber von welchem doch, in verschiedenem Sinn, das Leben ausgeht: sie hat mehr Herz.
(S. 438)
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1851
Der Glaube ist alles
Ohne den Glauben stolpert man über eine Strohhalm [Petrus wird bange vor einem Mädchen - und er verleugnet Christus], mit dem Glauben versetzt man Berge . . .

(S. 464)

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29. Okt. 1837
Darum halte ich soviel mehr vom Herbst als vom Frühjahr, weil man im Herbst nach dem Himmel sieht - im Frühjahr auf die Erde.
(S. 83)

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1843
Man sagt, daß die Erfahrung einen Menschen klug mache. Das ist recht unvernünftig geredet. Wäre da nichts Höheres als Erfahrung, so würde sie ihn gerade verrückt machen.
(S. 141)
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1846
Jedes Naturphänomen beruhigt, und um so mehr, je länger man darauf sieht oder hört. Jedes Kunstprodukt erregt Ungeduld. Das Gesetz für ein Feuerwerk wird zuletzt sein, daß es in fünf Minuten abgebrannt sein soll, je kürzer, desto besser. Aber des Windes Sausen, der Wellen Wechselsang, das Flüstern des Grases gewinnt mit jeder Minute, die man darauf hört.
(S. 189-190)



12. Mai 1839
Es ist recht bemerkenswert, daß, während alle anderen Bestimmungen, die von Gott ausgesagt werden, Adjektive sind, "die Liebe" ein Substantiv ist, und man würde schwerlich darauf fallen, zu sagen: "Gott ist lieb". So hat die Sprache selbst das Substantielle ausgedrückt, das in dieser Bestimmung liegt.
(S. 108)
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17. Juli 1840
Es ist doch ein Gleichgewicht in der Welt. Dem einen gab Gott die Freuden, dem andern die Tränen und Erlaubnis, einmal zuweilen sich auszuruhen in Seiner Umarmung - und das Göttliche reflektiert sich doch weit schöner in dem tränengeblendeten Auge, so viel schöner der Regenbogen ist als der klare blaue Himmel.
(S. 125)
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23. Sept. 1837
Es ist immer der Moses unseres Lebens [d. h. unsere ganze volle poetische Lebenskraft], die nicht in das verheißene Land hineinkommt; es ist nur der Josua unseres Lebens, der hinkommt. Wie Moses zu Josua, verhält sich unseres Lebens poetischer Morgentraum zu seiner Wirklichkeit.
(S. 82)
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23. Jan 1839
Es soll mit den Seelenzuständen des Menschen sein wie mit den Buchstaben in den Lexika, einige sind so stark und voluminös entwickelt, andere haben bloß ein paar Wörter unter sich - aber ein vollständiges Alphabet soll die Seele haben.
(S. 103)
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12. Sept. 1838
Das ist gerade das Tiefe im Christentum, daß Christus sowohl unser Erlöser ist wie unser Richter, nicht daß einer unser Erlöser ist, ein anderer unser Richter, denn so kämen wir ja doch ins Gericht, sondern daß der Erlöser und der Richter derselbe ist. (S. 97)
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16. Febr. 1839
Furcht und Zittern ist nicht primus motor in dem christlichen Leben, denn das ist die Liebe; aber es ist das, was die Unruhe ist in der Uhr - es ist des christlichen Lebens Unruhe.
(S. 105)
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1848
Wenn Kinder einen ganzen Tag zusammen sind, so spielen sie miteinander oder was sie sonst tun mögen, und diese Beziehungen zueinander, diese Relativität wird ihnen die Wirklichkeit, in welcher sie sozusagen ein jeder respektive ernstliche Größen sind. Aber dann kommt plötzlich Botschaft, der kleine Peter, Christian, Sören oder Hans oder wie er sonst heißen mag, solle heimkommen. So greift das Absolute störend ein. So auch mit den Älteren -: mit dem Religiösen im Zusammenleben mit den Älteren. Nun geht er hin und redet mit den anderen ernsthaften Männern darüber, was er in der Welt sein will, daß er das und das sein will, und es scheint den anderen ernsthaften Menschen, daß er ein ernsthafter Mann ist, fast genau so ernsthaft, wie die anderen. Aber dann kommt plötzlich Botschaft, daß er heimkommen solle -: das Gottesverhältnis macht sich geltend. Siehe, darum kann der wahrhaft Religiöse niemals es bis zu der besonderen Art von Ernst bringen, der der allgemeine ist in der Welt, dem, der das Gottesverhältnis ausläßt. Das Kind kann nicht die Erlaubnis bekommen, sich in dem Sinnesbetrug festzusetzen, daß das Verhältnis zu den anderen Kindern das Ganze sei - denn es kommt die Botschaft, daß es heimkommen solle. (S. 292)
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1850
Wer den Nächsten haßt, hat kein Kindesrecht bei Gott; ja nicht bloß hat er kein Kindesrecht, sondern er hat keinen "Vater". Gott ist nämlich nicht eigens mein oder irgendeines Menschen Vater [entsetzliche Vermessenheit und Narrheit!], nein, er ist nur Vater in der Bedeutung von: Vater aller, also nur mein Vater, insoweit er Vater aller ist. Wenn ich nun einen hasse oder bei ihm leugne, daß Gott sein Vater ist - so ist nicht er es, der verliert, sondern ich: Ich habe so keinen Vater.
(S. 441)

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1851
Das bloß Humane
Es ist unglaublich, wie frech mancher heutzutage auf das bloß Humane im Gegensatz zum Christentum sich beruft.
Aber was ist es denn, was wir jetzt das Humane nennen?
Es ist ein verflüchtigtes Christentum, ein Kulturbewußtsein, ein Bodensatz des Christentums.
Man müßte zu diesen Humanisten sagen: schafft doch das bloß Humane her - denn das Humane, das wir jetzt haben, ist eigentlich das Christentum, wenn es auch dasselbe nicht haben will; aber ihr könnt nicht mit Recht es als das Eure nehmen im Gegensatz zum Christentum.

(S. 477)

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1848
Das Gottesverhältnis ist das einzige, das Bedeutung gibt. Das sieht man eminent in Christi Leben. Da war ein Tag, ein Tag, der vermutlich auch seine Begebenheit gehabt hat, von der alle als dem ungeheuer Wichtigen gesprochen haben - an diesem Tag salbte ein Weib Christi Haupt - welche Unbedeutendheit; und doch ist all das andere vergessen, nur sie im Gedächtnis. Aber nie, scheint mir, tritt die göttliche Würde, das Bewußtsein davon, Gott zu sein, stärker hervor in Christi Leben, nicht wann er ein Wunder tut, als da Er zeigt, welche unendliche Realität Sein Leben hatte, daß eine so unbedeutende Begebenheit ewig erinnert zu werden verdient, daß ein unbekanntes Weib, ein verschwindendes Nichts unsterblich wird, bloß weil sie eines Tages Sein Haupt salbte!
(S. 276)
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13. Febr. 1839
Das ist die vollste Prophezeiung, die je gewesen ist, da Christus sagt: Es ist gut für euch, daß ich fortgehe, da war der Augenblick, da Christi irdisches Dasein in dem Grad seine Reife erlangt hatte, da sein Leib eingedörrt war, wie die Frucht es ist, wenn ihre Zeit vorbei ist, da die ganze göttliche Fülle nicht mehr länger Raum finden konnte in irdischer Gestalt als individuelle Existenz.
(S. 105)
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17. Juli 1840
Einen Mystiker hört man gleichwie gewisse Vogelschreie nur in der Stille der Nacht; sehr oft hat deshalb ein Mystiker nicht so große Bedeutung für die lärmende Mitwelt wie nach einiger Zeit in der Stille der Geschichte für den lauschenden Geistesverwandten.
(S. 124)
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1854
Das Weib
. . . in einem müßigen Augenblick fiel es mir heute beim Gehen ein: wenn man um der Kuriosität willen einen Augenblick dächte, daß der Mann Kinder gebären könnte - ich bin überzeugt, es würden recht schwere Geburten werden und warum? Unter anderem auch weil er nicht schreien wollte; er würde zu sich selber sagen: Du bist ein Mann, es ziemt sich nicht zu schreien, du mußt sehen, den Schrei zurückzuhalten. Das Weib dagegen schreit auf der Stelle - und dieser Schrei unterstützt, wie bekannt, die Geburt.
In jedem Weib ist durch diese instinktive Klugheit etwas Geniales, genial kürzt sie ungeheuer ab, verglichen mit dem Mann, der von tausend Reflexionen beschwert ist und unter anderen auch von einer zuweilen doch nur dummfeierlichen Vorstellung von eigener Würde, davon: Mann zu sein.
(S. 557)
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1848
Das Lächeln des Sokrates. Man glaubte, dieses Lächeln sei boshaft, aber das war es nicht. Weil es seine einzige Lust und Freude war, zu sehen, wie es gelang, einen andern leer zu fragen - darum lächelte er. Denke Dir einen Künstler [der da also nichts damit zu tun hat, andere auszufragen]; in dem Augenblick, wo die Idee zu einem großen Kunstwerk ihm recht klar wird, lächelt er. Und so auch ein Denker, wenn er etwas richtig begriffen hat. Wenn es keine so geistlose Kunst wäre zu angeln, so würde der Angler auch lächeln, wenn der Fisch anbeißt. Dies ist das Lächeln der Intellektualität.
(S. 264)
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7. Jan. 1839
Das ist die Verwirrung mit uns, daß wir zugleich der Pharisäer sind und der Zöllner. (S. 103)
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1848
Furchtbares Mißverhältnis! Die Schrift sagt, daß ein Mensch in der Ewigkeit Rechenschaft ablegen soll für jedes ungebührliche Wort, das er geredet hat - und das ist doch der letzte Trost, den man hat, daß man zum mindesten in der Ewigkeit von Zeitungen frei sein soll.
(S. 310)
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1845
Wenn die Untertanen in einem Land, wo ein König auf dem Throne ist, sich hinsetzen und untersuchen wollen, ob es doch richtig sei, einen König zu haben, so möchte er wohl rasend werden. Und so benimmt man sich gegen Gott - man vergißt, daß Gott da ist, und überlegt, ob es richtig, annehmlich sei, einen Gott zu haben.
(S. 176)
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1846
Eben, weil Gott nicht Objekt sein kann für den Menschen, da Gott das Subjekt ist, eben darum erweist auch das Umgekehrte sich absolut: wenn einer Gott leugnet, so tut er Gott keinen Schaden, sondern vernichtet sich selbst; wenn einer Gottes spottet - so spottet er seiner selbst.
Je reiner ein Mensch ist, desto mehr nähert er sich auch im Verhältnis zu andern Menschen dem, für sie nicht Objekt sein zu können. Doch bleibt hier natürlich immer ein unendlicher qualitativer Unterschied.

(S. 225)

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19. Mai 1838 vormittags 10½ Uhr
Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die ebenso unerklärlich uns durchglüht, wie der Ausbruch des Apostels unmotiviert eintritt: "Freuet euch und wiederum sage ich: Freuet euch". - nicht eine Freude über dieses oder jenes, sondern der Seele feuriger Ausruf "mit Zunge, Mund, aus Herzensgrund": Ich freue mich mittels meiner Freude, von, in, an, bei, wegen und mit meiner Freude - ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unsern übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleichwie ein Windhauch kühlt und erfrischt, eine Welle des Passates, der aus dem Hain Mamre zu den ewigen Wohnungen bläst.
(S. 91)

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1854
Die Unruhe
Wie der Fischer, wenn er das Garn gelegt hat, im Wasser Lärm macht, um die Fische seinen Weg zu jagen und desto mehr zu fangen; wie der Jäger mit der Schar der Treiber das ganze Terrain umspannt und das Wild in Menge aufscheucht zu der Stelle hin, wo es geschossen werden soll: so jagt Gott, der geliebt werden will, mit Hilfe von Unruhe nach den Menschen.
Das Christentum ist die intensivstärkste, die größtmögliche Unruhe, es läßt sich keine größere denken, es will [so wirkte ja Christi Leben] das Menschendasein beunruhigen von tiefsten Grund aus, alles sprengen, alles brechen.
. . . Wo einer Christ werden soll, da muß Unruhe sein; und wo einer Christ geworden ist, da wird Unruhe.
(S. 572)
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26. Dez. 1837
Warum ruht die Seele so aus und stärkt sich beim Lesen von Märchen? Wenn ich müde bin von allem und "satt des Tages", sind Märchen immer ein Bad der Erneuerung, das sich für mich so wohltuend erweist. Hier sind alle irdischen, alle endlichen Sorgen zu Ende; die Freude, ja das Leid selbst ist unendlich [und gerade deshalb wirken sie so ausweitend wohltuend]. Man zieht aus, um den blauen Vogel zu finden, wie die Prinzessin, auserlesen zur Königin, einen andern das Reich besorgen läßt, um selber ihren unglücklichen Geliebten zu suchen. Und welches unendlich tiefe Leid liegt nicht darin, daß sie als Bauernmädchen verkleidet umherirrt, zu einem alten Weibe sagt, dem sie begegnet: "Ich bin nicht allein, meine gute Mutter; ich habe ein großes Gefolge bei mir von Kummer, Sorgen, Leiden." Man vergißt so ganz und gar das einzelne private Leid, das jeder Mensch für sich haben kann, um zu versinken in dem allen gemeinsamen tiefen Leid, wodurch man so leicht versucht wird, zu wünschen, einem alten Weibe zu begegnen, zu dem man sagen könnte "meine gute Mutter" - oder einem jungen Mädchen, das rund um die Erde irrt nach ihrem Geliebten, um zusammen die Pilgerfahrt anzutreten. - Oder, welche stark aushaltende ewige Freundschaft liegt nicht in derselben Geschichte darin, daß der Zaubermeister, der "Huldreich" beschützt, achtmal rund um die Erde wandert und nun nach Gewohnheit zuerst lange ins Horn stößt und danach fünfmal mit aller Kraft ruft: "O Huldreich, König Huldreich, wo bist du?" - Oder wenn da erzählt wird von einem König oder einer Königin, die eine einzige Tochter hatte - da war nicht die Rede von Finanzen . . . sie rufen nicht die Stände zusammen - nein! alle Ammen rufen sie zusammen.
(S. 85-86)
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1848
Daß ein Mensch zehn, zwanzig, dreißig Jahre hat hinleben können, ohne gemerkt zu haben, daß Gott da ist: oh, das ist furchtbar, zu verschulden, daß Gott einem so zürnt. Denn Gott ist der Liebende, und die erste Form ist just die, daß er liebend darauf aufmerksam macht, daß er da ist; daß man hingeht und schläft, ohne aufmerksam zu werden auf Gott. Aber das ist Gottes Zorn, einen Menschen wie ein Tier hinleben zu lassen, das er nicht anruft. (S. 281)
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9. Nov. 1849
Wenn ein Araber in der Wüste plötzlich in seinem Zelt eine Quelle entdeckte, so daß er also beständig Quellwasser im Überfluß hätte: wie glücklich würde er sich preisen - so auch, wenn ein Mensch, der qua sinnliches Wesen beständig nach außen gekehrt ist, in der Meinung, daß seine Glückseligkeit außer ihm liege, plötzlich nach innen gekehrt wird und entdeckt, daß die Quelle in ihm liegt; geschweige, wenn er die Quelle entdeckt, die das Gottesverhältnis ist. (S. 385)
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1846
Nach und nach, wie Aufklärung und Bildung zunehmen und die Forderungen höher und höher werden, wird es natürlich schwieriger und schwieriger, als Philosoph die Forderung der Zeit zufrieden zu stellen. Im Altertum forderte man: Geistesgaben, Freiheit des Sinns, Leidenschaft des Denkens. Man vergleiche die heutige Zeit, nun fordert man in Kopenhagen, daß ein Philosoph auch dicke oder doch wohlgeformte Beine haben soll, und daß seine Kleider nach der Mode sitzen sollen. Das wird schwieriger und schwieriger, es sei denn, man begnüge sich mit der letzten Forderung allein und nehme an, daß jeder, der dicke oder wohlgeformte Beine hat und dessen Kleider nach der Mode sitzen, ein Philosoph ist.
(S. 185)
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7. Okt. 1837
Mein Leben ist leider allzu konjunktivisch, Gott gebe, ich hätte eine indikativische Kraft. (S. 82)
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29. Okt. 1837
Alle anderen Religionen sind oblique Reden, der Stifter tritt zur Seite und führt einen anderen redend ein, sie gehören deshalb selber unter die Religion - das Christentum allein ist direkte Rede [Ich bin die Wahrheit]. (S. 83)
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28. Sept. 1849
Es ist mit dem Verhältnis zu Gott nicht wie mit dem Verhältnis zu einem Menschen, daß, je länger sie zusammenleben und je näher sie einander kennenlernen, desto näher sie einander auch kommen: oh, umgekehrt im Verhältnis zu Gott; je länger man zusammenlebt mit ihm, desto unendlicher wird er - und desto weniger wird man selber. Ach, als Kind schien es einem doch, daß Gott und Mensch gut zusammen spielen könnten. Ach, als Jüngling träumte man doch davon: wenn man recht unbedingt und rasend sich anstrengen wollte wie ein Verliebter, wenn auch anbetend, so ließe sich das Verhältnis doch noch zustande bringen. Ach, als Mann entdeckt man, wie unendlich Gott ist, und den unendlichen Abstand. Dies ist die Entdeckung, sie hat etwas gemeinsam mit der sokratischen Unwissenheit, mit der nicht begonnen wurde, sondern geendet - daß es endete mit Unwissenheit! (S. 375)
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9. Okt. 1835
Es geht mit dem Christentum oder mit dem Christwerden wie mit jeder Radikalkur, man setzt sie aus solange wie möglich. (S. 44)
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9. Juli 1837
Es gibt einzelne Dinge, die einem nicht leid werden, wenn man z. B. in einem Wald Schnitter das Gras mähen hört und sie alle auf einmal einhalten, um die Sense zu wetzen, ein Laut, der monotonisch wiederkommt wie der Kehrreim in den alten Weisen - wie eine Art Gebet und Anrufung. (S. 74)
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1846
Wenn die Naturwissenschaften zu Sokrates' Zeiten entwickelt gewesen wären, wie sie jetzt sind: so wären alle Sophisten Naturforscher geworden. Der eine hätte ein Mikroskop vor seiner Boutique hängen gehabt, um Kunden anzulocken, ein anderer ein Schild, auf dem stand: hier sieht man mit Hilfe eines Riesenmikroskopes, wie ein Mensch denkt; hier, wie das Gras wächst. - Ausgezeichnete Motive für einen Aristophanes, besonders wenn man Sokrates mit dabei sein und in ein Mikroskop gucken ließe. (S. 222)
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1846
Von den Naturwissenschaften aus wird sich die traurigste Differenz zwischen Einfältigen ausbreiten, die einfältig glauben, und Gelehrten und Halbstudierten - die durch ein Mikroskop gesehen haben. Man darf da nicht mehr wie in alten Tagen freimütig seine Rede von dem einfältig Höchsten an alle, alle, alle Menschen richten, gleichgültig, ob sie schwarz sind oder grün, ob sie große Köpfe haben oder kleine: man muß erst sehen, ob sie Gehirn genug haben - um an Gott zu glauben. Hätte Christus das mit dem Mikroskop gewußt, so hätte er zuerst die Apostel untersucht. (S. 222-223)
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1846
Es geht den meisten Systematikern im Verhältnis zu ihren Systemen, wie wenn ein Mann ein ungeheures Schloß baut und selber seitwärts in einer Scheune lebt, sie leben nicht selber in dem ungeheuren systematischen Bau. Aber in geistigen Verhältnissen ist und bleibt dies ein entscheidender Einwand. Geistig verstanden müssen eines Mannes Gedanken der Bau sein, worin er wohnt - sonst ist es verkehrt. (S. 188)
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1849
Wehe, wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus heute in die Welt: so wahr ich lebe, er nähme sich zum Ziel nicht die Hohenpriester - sondern die Journalisten. (S. 335)
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13. Juli 1837
Man wirft den andern vor: daß sie zu sehr Gott fürchten. Sehr richtig, denn um richtig Gott zu lieben, dazu gehört auch, daß man Gott gefürchtet hat; die Liebe des Spießbürgers zu Gott tritt ein, wenn das vegetative Leben in voller Wirksamkeit ist, wenn die Hände behaglich über dem Magen sich falten und von dem in einem weichen Lehnstuhl zurückgelehnten Kopf ein schlaftrunkener Blick zur Decke sich hebt. (S. 80)
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15. April 1838
Das Leben läßt sich erst erklären, wenn es durchgelebt ist, gleichwie auch Christus erst begann, die Schriften zu erklären, um zu zeigen, wie sie von ihm lehrten - als er auferstanden war. (S. 90)
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24. Nov. 1834
Der Stein, der vor Christi Grab gelegt wurde, scheint mir passend der Stein der Weisen genannt werden zu können, insofern seine Wegwälzung nicht bloß den Pharisäern, sondern nun 1800 Jahre hindurch den Weisen so viel zu schaffen gemacht hat.  
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13. Juli 1837
Das Heidentum kommt niemals näher zur Wahrheit als Pilatus: was ist Wahrheit? und darauf kreuzigen sie sie. Dank, Lichtenberg, Dank! weil du sagst: daß es nichts Kraftloseres gibt, als mit einem Literaten der Wissenschaft zu reden, der selber nicht gedacht hat, aber tausend literarhistorische Umstände weiß. "Es ist fast wie die Vorlesung aus einem Kochbuch, wenn man Hunger hat". O Dank für diese Stimme in der Wüste, Dank für diese Labung. Wie der Schrei eines wilden Vogels in der Stille der Nacht die ganze Phantasie in Bewegung setzt, stelle ich mir vor, daß es nach einem lang andauernden Geschwätz mit einem solchen gelehrten Umgangssüchtigen war, der ihn vielleicht eines glückseligen Augenblicks beraubte. Leider steht in dem Exemplar, in welchem ich lese, ein Zeichen daneben, das mich stört; denn ich sehe schon im Geist den einen oder andern Journalisten, der dieses Werk sorgfältig durchgegangen hat, um sein Blatt zu füllen mit Aphorismen oder Lichtenbergs Namen, und dadurch hat er mir leider etwas von der Überraschung geraubt. Sie führen Liste gleichwie Leporello, aber was ihnen fehlt, ja darin steckt es; während Don Juan verführt und genießt - notiert Leporello Zeit, Ort und das Signalement des Mädchens.
(S. 78-79)
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7. Juli 1838
Gott schafft aus nichts, wunderbar, sagst du. Ja gewiß, aber er tut das, was wunderbarer ist: er schafft Heilige aus Sündern.
(S. 91)

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3. Febr. 1839
Das Göttliche kann sich gut rühren unter den irdischen Verhältnissen, und es braucht nicht deren Vernichtung als Bedingung für sein Hervortreten, so wie ja Gottes Geist für Moses sich offenbarte im Dornbusch, der brannte, ohne verzehrt zu werden.
(S. 104-105)

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6. Nov. 1837
Ahnung ist das Heimweh des irdischen Lebens nach dem Höheren, nach der Anschauung, die der Mensch in seinem paradiesischen Leben gehabt haben muß.
(S. 84)

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8. Dez. 1837
Ich glaube, daß ich, wenn ich einmal ein ernster Christ werde, mich am meisten darüber schämen werde, daß ich es nicht früher geworden bin, sondern zuerst alles andere versuchen gewollt habe.
(S. 85)
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1846
Wie gerne wollte ich nicht lesen und lesen; es ist mir, als würde es eine Abkürzung sein. Und doch glaube ich, daß ich weiter komme mit Geduld - auf dem langen Weg des Selbstdenkens. (S. 225)
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1847
Alle Menschen wünschen, mit großen Männern, großen Ereignissen usw. gleichzeitig zu sein oder zu werden, Gott weiß, wieviele Menschen eigentlich gleichzeitig mit sich selbst leben. Gleichzeitig mit sich selbst sein [also nicht mit dem Künftigen der Furcht oder der Erwartung, oder mit der Vergangenheit] ist Durchsichtigkeit in Ruhe, und dies ist nur möglich durch das Gottesverhältnis, oder dies ist das Gottesverhältnis.
(S. 253)
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1847
Ob wohl ein Mensch, der ein Wunder tun könnte, darauf halten würde, die Brosamen aufheben zu lassen? Ach, bloß bei einem überflüssigen Gastmahl ist es Brauch, die Gläser in Scherben zu schlagen, um den Überfluß zu bezeichnen. Aber Christus tut ein Wunder, kann jeden Augenblick ein Wunder tun - und er läßt die Brocken sammeln. Daß ein Armer sagt: Brocken sind auch Brot, das hört man - aber daß der Reichste zugleich, als wäre er der Ärmste, die Brocken sammelt: das ist göttlich.
(S. 253-254)
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17. Jan. 1837
Die Philosophie wirft bei jedem Schritt, den sie macht, eine Haut von sich, und in die kriechen die dümmeren Anhänger hinein.
(S. 68)
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9. Juli 1837
Es ist so unmöglich, daß die Welt ohne Gott bestehen kann, daß, wenn Gott sie vergessen könnte, sie augenblicklich untergehen würde.
(S. 74)
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1854
Alles - Nichts
Gott schafft alles aus Nichts - und alles, das Gott gebrauchen will, macht er zuerst zu nichts.
(S. 563)
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1851
Geist ist: welche Macht eines Menschen Erkenntnis über sein Leben hat. Der, welcher vielleicht mit einer unrichtigen Vorstellung von Gott doch dem nachkommt, was diese unrichtige Vorstellung an Selbstverleugnung von ihm verlangt, hat mehr Geist als der, der vielleicht sogar gelehrt und spekulativ die richtige Gotteskenntnis hat, die aber überhaupt keine Macht über sein Leben ausübt.
(463)
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17. Jan. 1837
Es gibt viele Menschen, die zu einem Lebensresultat kommen gleichwie Schulbuben; die hintergehen ihre Lehrer dadurch, daß sie das Fazit aus dem Rechenbuch abschreiben, ohne selbst die Aufgabe gerechnet zu haben.
(S. 59)
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9. Juli 1837
Es gibt wenig Worte, mit denen die Menschen, ohne es zu wissen, so viel sagen wie mit dem Wort: orientieren; das ist ein weltgeschichtliches Memento - die ganze Geschichte geht vom Osten aus, dem Ausgangspunkt des Menschengeschlechts.
(S. 76-77)

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17. Jan. 1837
Das ist der Weg, den wir alle gehen müssen - über der Seufzer Brücke hinein in die Ewigkeit.
(S. 66)
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8. Okt. 1836
Es gilt im Leben aufzupassen, wann das Stichwort für einen kommt.
(S. 56)
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1854
O Gott!
Ja, o Gott, Du hast doch Plage mit uns Menschen! Ach, wenn ich beim Gedanken an alle Deine Wohltaten gegen mich meinen Sinn sammeln will, um Dir recht zu danken - ach, da finde ich mich oft so zerstreut, die verschiedenartigsten Gedanken durchkreuzen meinen Kopf, und es endet damit, daß ich Dich bitten muß, mir zu helfen, Dir zu danken - aber das könnte doch ein Wohltäter verlangen, daß man ihm nicht neue Ungelegenheiten bereite durch das Verlangen, daß er einem sogar helfen solle, ihm zu danken!
Oh, und wann die Sünde einen Augenblick Macht bekommt über mich in neuer Sünde - wenn da meine Seele trostlos wird, so weiß ich zuletzt nichts anderes zu tun, als Dir zu sagen: Du mußt mir helfen. Du mußt mich trösten, auf etwas kommen, worin ich recht Trost finde, so daß meine Schuld sogar sich erklärt, indem sie mir weiter hilft, als ich gekommen war. Welche Unverschämtheit - Du bist es ja, gegen den ich sündigte, und nun von Dir zu verlangen, daß Du mich darüber trösten sollst.
Und doch weiß ich, daß es Dir nicht mißfällt, unendliche Liebe, denn das ist doch in einem gewissen Sinn ein Zeichen von Fortschritt! Hat die Sünde ganz Macht über einen Menschen, so darf er gar nicht an Dich denken; kämpft er mit ihr, aber nicht aus all seiner Macht, so darf er höchstes nur sich selber anklagen bei Dir und Dich um Vergebung bitten. Aber kämpft er aus all seiner Macht, redlich - da erst konnte es ihm einfallen, daß Du für ihn Partei ergreifst oder auf seiner Seite bist, daß Du es bist, der ihn trösten muß, daß er bei Dir, anstatt bloß sich anzuklagen, sich beklagen darf, fast als wäre es etwas, das ihm zugestoßen ist.
(S. 568-569)
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1847
Die jetzt lebende Christenheit lebt eigentlich so, als wäre das Verhältnis dieses: Christus ist der große Held und Wohltäter, der uns ein für allemal die Seligkeit gesichert hat, nun sollen wir bloß froh sein und vergnügt über die unschuldigen Güter des irdischen Lebens und ihm den Rest überlassen. Aber Christus ist wesentlich das Vorbild, also sollen wir ihm gleichen, nicht bloß Nutzen von ihm haben. (S. 253)
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1850
Die Nachfolge
Die rechte Nachfolge entsteht nicht dadurch, daß da gepredigt wird: Du sollst Christus nachfolgen; sondern dadurch, daß davon gepredigt wird, was Christus für mich getan hat. Faßt und fühlt ein Mensch dieses recht tief und wahr, wie unendlich viel es ist, so folgt die Nachfolge schon. (S. 443-444)
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März 1836
Das ganze menschliche Leben ließe sich gut wie eine große Rede auffassen, in der die verschiedenen Menschen die verschiedenen Redeteile repräsentieren [das ließe sich vielleicht auch auf die Staaten im Verhältnis zueinander überführen]. Wie viele Menschen sind bloß Adjektiva, Interjektionen, Konjunktionen, wie wenige sind Substantiva, Verba, wie viele sind Kopula!
(S. 50)
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Jan. 1852
"Der Professor"

Der Philosoph war im früheren Altertum eine Macht, ethische Macht, Charakter - das Kaisertum sicherte sich dadurch, daß es - sie entlohnte, sie zu "Professoren" machte.
So auch mit dem Christlichen.
Der Professor ist der Kastrat: aber er hat sich nicht entmannt um des Reiches Gottes willen, sondern umgekehrt, um recht hineinzupassen in diese charakterlose Welt.
(S. 496)
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6. Jan. 1839
Vater im Himmel! Wenn der Gedanke an Dich in unserer Seele erwacht, so laß ihn nicht erwachen wie einen aufgeschreckten Vogel, der verwirrt umherflattert, sondern wie ein Kind aus dem Schlaf mit seinem himmlischen Lächeln.
(S. 103)
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1851
"Wer seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz verschließt" - ja, er schließt mit jenem auch Gott aus.
Es ist mit der Liebe zu Gott und mit der Liebe zu dem Nächsten wie mit zwei Türen, die auf einmal aufgehen, so daß es unmöglich ist, die eine aufzuschließen, ohne auch die andere aufzumachen, und unmöglich, die eine zu schließen, ohne auch die andere zu schließen.

(S. 464)

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Aus: Sören Kierkegaard Die Tagebücher 1834-1855
Ausgewählt und übertragen von Theodor Haecker [1879-1945]
Hegner Bücherei Im Kösel Verlag zu München 1949


 

 


 


siehe auch:

Sören Kierkegaard (1813-1855) - Aus: Leben und Walten der Liebe

Sören Kierkegaard (1813-1855) - Gebete

Sören Kierkegaard (1813-1855) - Aus: Liebe deckt der Sünden Menge




 

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