Das Sonntagsgedicht 2015

Dichter und Dichterinnen des 20. Jahrhunderts - andächtig, besinnlich, im Gebet ...
(27. Dezember 2015)
   


Wassily Kandinsky (1866-1944) - Fragile (1931)





 




Anna Ritter (1865-1921)


Gottheit

Betende Hände hebe ich auf
Zu dir, von dem mir die Wolken erzählen
Und Sonne und Sturm und das eigene Herz.
Es sah dich Keiner . . es hörte dich Keiner,
Und dennoch ziehst du leuchtende Spuren
Durch dieses Lebens brausende See,
Und winkst Verirrten
Ans sichere Ufer
Und bietest Heimath
Ewig Verlornen
Und Frieden denen,
Die friedlos sind!
Seit Ewigkeiten rauschen die Wasser
Und tragen der Menschen schwankende Schifflein,
Ihr Zagen und Hoffen zu dir zurück.
Und du empfängst sie mit Liedern der Heimath,
Die tönen Ruhe, Trost und Erfüllung
Und schläfern die müden, weinenden Seelen
Gleich Wiegenliedern der Mutter ein.

Aus: Befreiung Neue Gedichte von Anna Ritter
Zweite Auflage Stuttgart 1900
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G.m.b.H.  (S. 269)

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