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      Karl Stamm 
      (1890-1919) 
       
       
      Inhaltsverzeichnis der Gedichte: 
      
       
      
       
       
      Aus:
      Der Aufbruch des Herzens 
      
       
      Ines 
       
      I. 
      Es hat der Tag in dir sein Lied gesungen, 
      in dich geflüchtet blüht er auf als Licht, 
      des Himmels Bläue, die sich nie erschwungen, 
      an deines Auges Stern erlöst zerbricht. 
       
      Du bist von allem, was da ist, durchdrungen. 
      Gott selber flüchtet in dein Angesicht, 
      in dir hält er die Schöpfung leis umschlungen, 
      an deinen Wesen lernte er Verzicht. 
       
      Verzicht? ... Du bist ihm selige Erfüllung. 
      Du bist ihm tiefen Schlafs zarte Umhüllung, 
      des tiefen Schlafes, dessen Gott bedarf, 
       
      der seines Namens müd, verarmt, beraubt 
      sich längst verdammt, verschrieen und verwarf - 
      Du sei um ihn, daß er sich selber glaubt. 
      
      (S. 148) 
      
      
      _____ 
      
      
       
       
      II. 
      Und ob wir beide hier uns ewig quälen 
      mit unserm blinden Fern- und Nahesein 
      und doch nie wir, nur Trinker ohne Wein, 
      die atemlos den Rest der Stunden zählen. 
       
      Und ob wir täglich wieder uns erwählen, 
      dass du in meine Seele dringest ein 
      und ich in dich - und sind uns ewiges Nein! - 
      Was soll dies stets verströmende Vermählen? 
       
      Doch will mir sein: Aus diesem Nicht-Ergreifen 
      tönt eine Stunde an, die uns errettet, 
      und ob wir noch so sehr aus uns gerissen. 
       
      Mit jedem Abschied wir uns näher reifen. 
      O tief und innig sind wir hingebettet 
      in dieses leise Voneinander-Wissen. 
      
      (S. 149) 
      
      
      _____ 
      
      
       
       
       
      III. 
      Mit ihren dumpfen Ängsten überfällt 
      mich plötzlich Nacht. Die Dinge fliehen sich. 
      Das Nichts erwacht, wächst her, umklammert mich. 
      Mit meiner Hand zerrinnt darin die Welt. 
       
      Stürz ich entwurzelt ab in jähen Schacht? 
      Der Geist erschweigt, die Hände suchen blind. 
      Und kalt im Nacken packt mich eisiger Wind. 
      Und tiefer dunkelt's, drängt sich, Nacht in Nacht. 
       
      Und wie ich falle, falle: Welch ein Glühen 
      aus Finsternis: Dein Leib beginnt zu blühen. 
      Dein Leib ist Licht! Wie tönst du tief und gross. 
       
      Du überstrahlst mich heiß. Dein Leuchten bindet. 
      O Flucht ins Licht! Mein Blick an dir erblindet. 
      Und trunken stürz ich hin in deinen Schoss. 
      
      (S. 150) 
      
      
      _____ 
      
      
       
       
       
      IV. 
      . . . .  War dies das Paradies? 
      Dass ewig ein Erwachen folgen muss! 
      Tod-Asche blieb von deinem Feuerkuss. 
      Fremd schaut dein Blick, der Sonne mir verhiess. 
       
      Sieh nicht nach mir, den eben Gott verstiess. 
      Aus diesem Feuerwein Gott selber schreit. 
      Ich bin ein Trunkner ohne Trunkenheit, 
      ich bin der Becher, den der Wein verliess. 
       
      Du aber wühlst dich los aus deinen Linnen, 
      umfängst mich heisser, küssest wie von Sinnen 
      und fühlst mich, enggeklammert, dir entrinnen. 
       
      Wir schliessen fester unsre kalten Hände. 
      Doch wie wir harren stumm auf Weg und Wende: 
      das Paradies verdämmert zur Legende. 
      (S.  151) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Das Hohelied 
      
       
      Das Lied an die Natur 
      
       
      Und ich gedenke der Stunde, 
      die mich mit weichen Händen 
      wegnahm aus dem Kreise der Kinder 
      und mich hinführte an das Ufer 
      des Sees und sprach: Hörst du? 
      Und ich sagte: Ja, ich höre; 
      Glockentöne, Glockenstimmen. 
      Und sie sprach: Vom Dorfe drüben ... 
      Und ich sagte: Nein, nein! 
      weiter, viel weiter, 
      ich weiss nicht, woher. - 
      Und plötzlich war ich entrückt 
      in ein dunkles Land 
      und ich fürchtete mich, 
      und eine Stimme rief: 
      Es werde Licht! (S. 
      11) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Im Anfang war der hohe Weltenwille. 
      Ihm war die wunderbarste Schönheit eigen: 
      Das ungebrochne, rätselsüsse Schweigen. 
      Er fuhr dahin im Schöpferkleid der Stille. 
       
      Und seiner Werke unermessne Fülle, 
      sie schwingt in Ruh den gottgewalt'gen Reigen. 
      Das ist ein Schweben, Fluten und ein Neigen 
      vom Innersten bis an die blaue Hülle. 
       
      Ein Hauch von dir weht tief in meinem Innern 
      und scheint sich manchmal deiner zu erinnern, 
      wenn stumm die Nacht aus braunen Gründen stösst. 
       
      Dann fühl ich, wie der Lärm des Tages endet; 
      und einen Augenblick bin ich vollendet 
      und tief in ew'ges Schweigen aufgelöst. 
      (S. 12) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In dieser Frühe ist kein Stillestehn: 
      In allen Wesen unsichtbares Weben, 
      und ist ein Formen unbewusster Leben, 
      die leise um Geborenwerden flehn. 
       
      Um alle Bäume haucht ein seltsam Wehn. 
      Es ist, als hörte man das leise Streben 
      der Knospen, die sich wie aus Angeln heben, 
      und Hüllen drohen manchmal aufzugehn, 
       
      so reiften sie entgegen einer Stunde, 
      und eine Frage hängt an ihrem Munde: 
      Wann nahet er, der uns erlösen mag? 
       
      Und Äste sind wie Arme ausgebreitet 
      und wie zu einem Feste vorbereitet 
      und harren alle auf den grossen Tag. 
      (S. 13) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In heissen Wehen liegt die junge Erde - 
      Wie die Geschöpfe ihre Schmerzen zwingen! 
      Ein unterdrücktes Schreien um Vollbringen 
      spricht aus der Bäume zitternder Gebärde. 
       
      Da schrillt's durch weite Stillen hin: "Es werde!" 
      Und plötzlich regen Wälder ihre Schwingen. 
      In Licht und Lust gefüllte Knospen springen! 
      Taufrische Gräser brechen aus der Erde 
       
      und sind schon voll von neugeformten Stimmen, 
      die tönend über offnen Blüten schwimmen, 
      von denen jede eine Sehnsucht spürt. 
       
      Und alle sind den Winden hingegeben 
      und wissen kaum von ihrem jungen Leben 
      und sind wie Kinder, rein und unberührt. 
      (S. 14) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Der wilde Taumel lässt mich nicht mehr stehen: 
      Die Erde lockt mich mächtig zu ihr nieder. 
      Sie fasst und kettet meine jungen Glieder 
      und zwingt mich, still zu lauschen ihrem Flehen: 
       
      "Du Menschenkind! Du darfst nicht von mir gehen! 
      O höre nur, wie unsre tollen Lieder 
      lustmächtig in die braunen Schollen nieder 
      und aufwärts in die Lüfte wild verwehen. 
       
      Sieh meine Blumen da, die Lenzgeschöpfe! 
      Wie strecken sie die gelben Blütenköpfe 
      hervor aus ihrem zarten Düftehaus. 
       
      Und hör: Dies Läuten da an allen Enden - 
      Ich glaube gar, die losen Schelme senden 
      den Blütenstaub schon auf die Brautfahrt aus!" 
      (S. 15) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Die Wälderorgeln brausen durch die Tiefen 
      mit wuchtig schweren, sprachgewalt'gen Tönen. 
      Tief in den Wurzeln widerhallt das Dröhnen, 
      wo starrgefesselt ihre Stimmen schliefen. 
       
      Es ist, als ob die Bäche schneller liefen. 
      Urlaute aus dem grünen Schachte tönen, 
      bald Jubelrufe und bald dumpfes Stöhnen, 
      als ob Gefangne um Erlösung riefen. 
       
      Sie nahen meiner Seele offnen Toren. 
      Wie sie mein Innerstes sturmwild durchbohren, 
      und brausend durch die Labyrinthe ziehn! 
       
      Zur tollen Orgel ist mein Herz geworden 
      und löst sich auf in zitternden Akkorden 
      und wilde, gotterfüllte Melodien. 
      (S. 16) 
      
      _____ 
      
       
       
       
       
      Die Landschaft wechselt plötzlich ihre Bilder: 
      versunken sind die Hügelregionen, 
      und vor mir starren weisse Gletscherzonen. 
      Eng wird der Pfad und steil und immer wilder. 
       
      Und Gipfel drohn wie hochgehaltne Schilder, 
      dahinter unsichtbare Riesen thronen. 
      In diesen Einsamkeiten möcht ich wohnen: 
      Wie schlürft mein Aug die aufgetürmten Bilder. 
       
      Den Schritt will ich in eure Reiche lenken 
      und mich in eure Seele still versenken, 
      ihr Zeugen unfassbarer Schöpferkraft, 
       
      geformt, gebildet von allmächt'gen Händen, 
      die euch unmerklich bauen und vollenden 
      in tiefer Ruh und ohne Leidenschaft. 
      (S. 17) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Eintret ich über blum'ge Wiesenschwellen 
      und halte still auf meinem Morgengange. 
      Das Tal ist voll von jauchzendem Gesange 
      und Blumen leuchten auf an allen Stellen. 
       
      Die sonst so kühlen, träumerischen Quellen 
      berauschen sich an ihrem eignen Klange, 
      und oben taumeln überm Felsenhange 
      lusttrunkne Vögel über Wasserfällen. 
       
      Und Zittern rieselt durch die Blütenköpfe, 
      in tausend Sprachen reden die Geschöpfe - 
      kein Wesen mehr das andere versteht: 
       
      Es fuhr der Geist auf unsichtbarer Schwinge 
      allmächtig schaffend in die kleinsten Dinge, 
      und jedes Wesen ist heut ein Prophet. 
      (S. 18) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Nun reden rings gehoben alle Dinge: 
      Der Steine Stammeln donnert gell zu Tale. 
      Zerbrochen liegt des Schweigens weisse Schale, 
      ein jeder Tropfen klingt gleich einer Klinge. 
       
      Es rollt der Wind mit flügelstarker Schwinge 
      die Melodieen hin im Felsensaale. 
      Urwort geworden sind mit Einem Male 
      die Wesen rings im blauumzirkten Ringe. 
       
      Wie war gewaltig schon das eh'rne Schweigen. 
      Wie überwältigt mich der grosse Reigen! 
      Die Schönheit lebt! Sie atmet, glüht und loht! 
       
      Ein Tönen steigt herauf an jedem Hange 
      und schwillt empor zu mächtigem Gesange: 
      Durch seine Stillen wandelt jubelnd Gott. 
      (S. 19) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In eines Felsengürtels kühlem Becken, 
      darin des Schweigens weisse Schleier weben, 
      lieg ich, der wilden Einsamkeit ergeben, 
      bewacht von ihren trotzig hohen Recken. 
       
      Kein Menschenwort vermag sie aufzuwecken. 
      Auf ihrem Antlitz regt sich kaum das Leben. 
      Das ist ein langsam leises Weiterweben. 
      Die schweren Häupter sich zum Himmel strecken. 
       
      Ihr Prediger der ungeheuren Stille! 
      Vor eurem Schweigen beugt sich tief mein Wille, 
      ich opfre stumm an eurem Hochaltar. 
       
      Ihr habt mich schon erhört. Ich hab genossen 
      vom Trank der Stille, den ihr ausgegossen. 
      Nun träumt der Friede tief in meinem Haar. 
      (S. 20) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Du Gipfel überm stillen Felsensaale, 
      du ziehst mich an mit deinem tiefen Schweigen. 
      Wie viel von deinem Wesen ist mir eigen! 
      Aus deinem Antlitz sprechen Wundenmale. 
       
      Zu deinen Füssen knieen Tale, 
      und Winde kühl um deine Hüften steigen, 
      und Menschen sich vor deiner Grösse neigen, 
      wenn du aufleuchtest stumm im Morgenstrahle. 
       
      Der du so hoch ob allem Wimmern wohnest, 
      in Rieseneinsamkeit und Stille thronest, 
      was schaust du sehnsuchtsvoll nach jedem Stern? 
       
      Was strebst du fort aus deiner starren Hülle? 
      Genügt dir nicht mehr deine eigne Fülle? 
      Suchst du dort oben einen starken Herrn? 
      (S. 21) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Auf meinem Lager lieg ich still und träume 
      und schaue in des Himmels dunkle Strassen. 
      Zur Ruh gegangen ist der Lärm der Gassen, 
      zu Dunst zerflossen sind die Wolkenschäume. 
       
      Nur Eine Wolke wandelt durch die Bäume. 
      Sie folgte mir seit Stunden schon gelassen. 
      Sie will mich rufen und sie will mich fassen, 
      schwebt höher schon, dass sie mein Haupt umsäume. 
       
      Die Augen schliess ich fest und geisterleise - 
      Ich fühle sie in meinem Innern schweben: 
      Sie kam herein durch unsichtbare Gleise. 
       
      Sie will urtief in meinem Innern leben. 
      Ins Land des Schlummers macht auch sie die Reise: 
      Das ist, sie will mir ihre Liebe geben. 
      (S. 22) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Und wenn des Abends übermächt'ge Fülle 
      mich überfliesst in dumpfer Einsamkeit 
      und mich erfüllt mit tiefer Trunkenheit 
      und heller leuchten lässt der Erde Hülle, 
       
      und wenn sein unbeugsamer Schöpferwille 
      Urworte in die trunknen Dinge schreit, 
      dass purpurrot die ganze Ewigkeit 
      hervorrollt aus dem Traumgewand der Stille, 
       
      dann starrt mein Geist in wachsender Erregung, 
      in die enthüllte, nahende Bewegung 
      und tauchet in das aufgetane Licht 
       
      und muss sich schaudernd überfluten lassen 
      und will das Meer versprühter Strahlen fassen 
      und atmet schwer und ringt und kann es nicht. 
      (S. 23) 
      
      _____ 
      
       
       
       
       
      O wäre doch der schwere Schritt getan! 
      Erinnrungsmächtig auf des Abends Strassen 
      ziehn stumm einher die schweren Wolkenmassen 
      und das Gebirg, das ich nicht meiden kann. 
       
      Und ganze Wälder folgen meiner Bahn 
      und öffnen mir die überwölbten Gassen 
      und wollen mich mit ihrer Stille fassen 
      und zünden ihre sel'gen Lichter an. 
       
      Wie habt ihr euer stilles, schönes Lieben 
      in meine Kinderseele eingeschrieben, 
      dieweil ich lag auf menschenleerer Flur. 
       
      Noch einmal komm und gib mir dein Geleite, 
      bevor ich diesen dunkeln Raum durchschreite. 
      Nun fühl ich erst, was du mir warst, Natur! 
      (S. 24) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Die Nacht schlägt auf ihr dunkelblaues Zelt, 
      und Sterne hangen hoch in ihren Netzen 
      und schweben dort nach ewigen Gesetzen 
      hinstarrend in die unermessne Welt, 
       
      die sich selber fest in Händen hält 
      und deren Glieder manchmal sich verletzen 
      bei eines Sterns starrem Sich-Widersetzen, 
      der stumm durch ungeheure Tiefen fällt. 
       
      Dann leuchtet's plötzlich auf im dunkeln Raume, 
      und eine Welt erwacht aus ihrem Traume 
      und starrt entsetzt auf seinen jähen Fall. 
       
      Doch ihre Hände fassen ihn im Kreise 
      und lenken ihn in neue, sichre Gleise, 
      und ruhig kreist das ew'ge All. 
      (S. 25) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Und manchmal bin ich wie von Gott verlassen: 
      In meinem Innern gähnet eine Leere. 
      Ich fühle keine Härte, keine Schwere, 
      und nichts mehr sind mir Wälder, Flüsse, Strassen. 
       
      Und keine Hand will mehr die meine fassen. - 
      Mich lockt nicht mehr das Ziehn der Wolkenheere 
      und nicht der Nachtgesang schlafloser Meere - 
      Die Liebe tot - und ausgelöscht das Hassen! 
       
      Ich bin gleich einem Stern am Himmelsbogen, 
      der irgendwo den weiten Raum betreten 
      und der nun reglos starret in den Tag, 
       
      gleichmässig von Gestirnen angezogen, 
      von denen keins ihn ganz vermag zu ketten 
      und die er anzuziehen nicht vermag. 
      (S. 26) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Das Lied der Liebe 
      
       
      Gnade wird dir, o meine Seele! 
      Die Nebel zerrinnen, 
      aufquellen die Fernen, 
      zur Feier gerüstet winken die Pfade. 
      O rauschet, ihr schweren Wälder! 
      Ihr Flüsse, murmelt! 
      Willkommen! o all ihr Genien! 
      Ihr Landschaften meiner Liebe! 
      Deine Gnade mir, o Liebe! 
      (S. 29) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Und einem Hafen nahte sich mein Boot, 
      es war im Augenblick der grössten Kühle. 
      Mich überliefen schauernde Gefühle: 
      Ich ahnte irgendwo ein Morgenrot. 
       
      Erschöpft lag ich im Kahne und wie tot 
      und sank zurück in alter Träume Pfühle 
      und sank - da fühlt ich plötzlich ein Gewühle 
      von Armen, die mich packten; es gebot 
       
      in lautem Ton ein unbekannter Rufer 
      verbundnen Augs zu tragen mich ans Ufer, 
      wo man im Kreis mich drehte und verliess. 
       
      Wo bin ich? schrie ich in die Stille, bis 
      fernher mir Antwort kam: Im Menschenland! - 
      Da löste ich die Binde mit der Hand. 
      (S. 30) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Bevölkert sind nun meine Einsamkeiten: 
      Wo einstmals Wiesenteppiche sich dehnten 
      und an die vielgeliebten Wälder Berge lehnten 
      und stumm dalagen unermessne Weiten, 
       
      da seh ich Häuserfronten grau sich breiten 
      mit hohen Fenstern, offnen, müdgegähnten, 
      als ob nach keinem Aufblick sie sich sehnten, 
      und auf den Strassen viele Menschen schreiten, 
       
      die sich nicht ansehn und sich nicht berühren 
      und nur in sich das dunkle Leben spüren, 
      durch das sie gehen wie ein stiller Traum, 
       
      verschwiegen, scheinbar kühl und ohne Seele 
      und so, als käm kein Laut aus ihrer Kehle, 
      mir fremder, als im Wald der stillste Baum. 
      (S. 31) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Du bist ein Kind und trägst in dir das Wehn 
      verhüllter Nächte und verborgner Tage. 
      Dein reines Seelchen kennet keine Klage 
      und hat die Kraft, im Spiele aufzugehn 
       
      und alle Dinge lächelnd anzusehn 
      und hinzunehmen ohne eine Frage. 
      Du schreckst nicht auf beim späten Stundenschlage 
      und fühlst nie bange Mächte dich umstehn 
       
      und schreitest unberührt durch offne Türen, 
      die tief in aufgetane Gärten führen, 
      wo schwüle Winde flüstern, warm und schwer ... 
       
      Doch manchmal, wenn die Landschaft plötzlich dunkelt 
      und du allein bist: Wie dein Auge funkelt! 
      Dann bist du nicht mehr Kind. Dann bist du mehr. 
      (S. 32) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich weiss, es kommen Stunden, wo du ganz 
      in dich versunken bist und deine Stille 
      und in dir anklingt ein erwachter Wille 
      und unter deines Haars verschlungnem Kranz 
       
      sich ängstlich wölbt die Stirne voller Glanz 
      und du mit tiefverhangener Pupille 
      zurück dich sehnst in deine erste Stille 
      und halberzwingst und siegst und doch nicht ganz 
       
      und dann die Arme hebst und horchst nach innen, 
      um diesen fremden Etwas zu entrinnen, 
      das immer tiefer in dein Dasein bricht 
       
      und dich verstrickt in unsichtbare Netze 
      und das an dir erfüllet die Gesetze 
      des ew'gen Seins. Du aber weisst es nicht. 
      (S. 33) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Unruhig Blut, willst du denn nicht verkühlen? 
      Was hast du nur? Ich höre laut dich fliessen 
      und wellenweise dich ins Herz ergiessen 
      und alte Dinge von der Schwelle spühlen. 
       
      Ich höre neue Gänge dich durchwühlen, 
      in unbekannte Gründe dich ergiessen. 
      Halt ein! Ich möchte meine Augen schliessen. 
      Muss ich denn immerdar dein Glühen fühlen? 
       
      Das pocht und pocht und will nicht stille werden. 
      Das gräbt und wühlt mit bebenden Gebärden, 
      als ging ein Irrer suchend in mir um. 
       
      Und wieder hör ich an der Türe pochen 
      und Worte tönen, wie von fern gesprochen 
      und wie aus einem Evangelium. 
      (S. 34) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich wälze ruhlos mich in meinem Bette - 
      ich höre Schritte an der Türe gehen, 
      und eines unbekannten Atems Wehen 
      schwebt duftend über meiner Lagerstätte. 
       
      Gesprengt am Boden liegt die starke Kette, 
      damit die Türen ich verriegelt. Spähen 
      nicht fremde Augen dort in tiefem Flehen? 
      Und nahn sich geisterleise meinem Bette? 
       
      Und Menschgestalt? Ihr Blick nimmt mich gefangen. 
      Und doch nicht Mensch. Nur menschliches Verlangen 
      strömt mächtig aus dem Wesen her zu mir. 
       
      Wie kamst du durch die starkbewachte Pforte? 
      Bist du das Schweigen? Hast du keine Worte? 
      Ich bin die Liebe. Friede sei mit dir. 
      (S. 35) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Gib mir die Hand, wir wollen weitergehen. 
      Das Haus der Einsamkeit musst du verlassen. 
      Wir wollen Menschen an den Händen fassen, 
      der Menschen Atem birgt ein süsses Wehen. 
       
      Lass fern von dir die schweren Wälder stehen. 
      Wir wandern selig weissumwölkte Strassen. 
      Ich führe dich durch schmale Felsengassen 
      und niegeahnte Dinge wirst du sehen. 
       
      Gefilde blühen dort in ew'ger Schöne, 
      und unsichtbare Harfen rauschen Töne, 
      und höchste Freude ist: Gib mir die Hand ... 
       
      Nun leb ich leise schon in deinem Innern. 
      Fahr zu. Ich will mich deiner gern erinnern, 
      ich führe dich in das verheissne Land. 
      (S. 36) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In sel'ger Blindheit wandelst du vorüber 
      an mir und ahnst nicht, wie unsäglich 
      ich mich verändert und verändre täglich 
      und wie auch mir die weiten Himmel trübe 
       
      erscheinen, wie aus tiefer Nacht herüber 
      und wie mir Stunden nahen, unerträglich 
      und meine Blicke, ernst und unbeweglich 
      an einer haften bleiben, die vorüber 
       
      und waldwärts schreitet mit verhaltnem Schritte 
      und sich zur Erde wirft in seiner Mitte 
      und in die Stille lauscht, die klangumtönte, 
       
      um endlich das Geheimnis zu erzwingen, 
      indessen fern und unter Händeringen 
      sich ruhlos wälzt, der sie erlösen könnte. 
      (S. 37) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Und plötzlich springst du auf von deiner Schwelle 
      und atmest tief. Nun hast du überwunden 
      und deine grossen Augen glühn: Gefunden. 
      Du zitterst noch und bebst wie die Gazelle 
       
      und wirst auf einmal laut wie eine Quelle 
      und deine Lippen sich zum Sange runden 
      und rufen auf verhaltne Feierstunden, 
      und aus den Bäumen dringt purpurne Helle. 
       
      Gewölbe springen über deinem Haupte! 
      Ich kenne dich nicht mehr, du Kind-Geglaubte! 
      Du bist nicht du! So jubelnd singt kein Kind! 
       
      Es rauscht in deinem Lied von wilden Tänzen 
      und rote Rosen Mädchenstirnen kränzen, 
      die feuerheiss wie junge Liebe sind! 
      (S. 38) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Mein Herz schrie auf in tiefer Mitternacht. 
      Mein Herz schrie auf beim glühen Morgenrot 
      und fieberte und litt und war wie tot 
      nach einer langen und verlornen Schlacht. 
       
      Und wieder ward es Tag und wieder Nacht. 
      Ich rief nach dir inbrünst'ger als nach Gott, 
      bis plötzlich eine weisse Hand sich bot 
      und fest mich hielt. Dann bin ich aufgewacht. 
       
      Und nun ist Tag. Die Wände stehn im Lichte, 
      und Augen glühn aus einem Angesichte, 
      und eine Stirne neiget sich, wie wenn 
       
      mit ihrem Glanz sie mich berühren wollte: 
      Ich wusste ja, dass ich nicht enden sollte 
      so gänzlich ungestillt, du kämest denn. 
      (S. 39) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      
      Der Liebende 
      
      Und einem Schiffe gleichet meine Seele, 
      das unaufhaltsam und durch Sturm und Regen 
      dem abgelegnen Hafen fährt entgegen, 
      dass es mit seiner Stille sich vermähle. 
       
      Wie dürstet mich nach dir, du Frauenseele! 
      Fühlst du mein Innerstes sich nicht erregen? 
      Das ist ein Streben und Sich-Hinbewegen 
      zu deiner Ruh nach göttlichem Befehle 
       
      beim Licht des Tages und beim Glanz der Sterne. 
      Gib mir ein Zeichen! Liebe, rede du! 
      Wie meine müden Finger wund sich dehnen: - 
       
      Was stehst du unbeweglich in der Ferne? 
      Bist du die unnahbare, ew'ge Ruh? - 
      Und ich das ew'ge, unstillbare Sehnen? 
      (S. 40) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      
      Die Liebende 
      
      Wie eine Blüte bin ich, die zur Stunde 
      sich unsichtbar im Innern ausgestaltet 
      und die nun ihre Blätter scheu entfaltet 
      aufdeckend eine langverhüllte Wunde, 
       
      die leise fieberte auf meinem Grunde 
      und immer wühlend noch im Innern waltet 
      bis sie einst stumm und ungestillt erkaltet. - 
      Wie send ich meine Blicke in die Runde 
       
      nach dir, du grosse, gnadenreiche Sonne! 
      Du kannst mich heilen! Still! O welche Wonne! 
      Dich Gebende! Dich Milde! bet ich an! 
       
      Vor deinem Glanze muss ich mich enthüllen: 
      o, komm, mit deinem Licht mich zu erfüllen! 
      Ich bin bereit und still und aufgetan. 
      (S. 41) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Welch tiefe Sehnsucht legst du in mich nieder 
      und lässest seligbang mich wieder schwanken. 
      Du füllest mich mit herrlichen Gedanken 
      und zauberst vor die Seele duft'gen Flieder. 
       
      In warmen Strahlen rinnst du an mir nieder. 
      Du hütest mich wie einen Fieberkranken, 
      zerstörst und bauest mächtig neue Schranken. 
      Du lässt mich dürsten und du tränkst mich wieder. 
       
      In tiefen Nächten lässt du mich genesen 
      um qualvoll wiederum in mir zu wesen. 
      Du nimmst und gibst, bist klar zugleich und wirr. 
       
      Und doch, du reissest mich empor zum Leben. 
      Ich hab dir meine Seele hingegeben: 
      Du übermächt'ge Kraft, ich glaube dir! 
      (S. 42) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich kann die Augen schliessen mit den Händen: 
      Du drängst dich unaufhaltsam durch die Spalten. 
      Ich mag die Nacht dir schwer entgegenhalten - 
      du gleitest dennoch stumm entlang den Wänden. 
       
      Ich stelle Wächter aus an allen Enden, 
      jedweden Fremdling rufend anzuhalten: 
      Du nahest lächelnd dich den Nachtgestalten, 
      die deine übermächt'gen Strahlen blenden. 
       
      Ich flieh vor dir in meine Traumgemächer 
      und stürze wild den übervollen Becher: 
      Herauf! Ihr Träume! Schäume! Abenteuer! 
       
      Umsonst - die Stille spottet meiner Worte. 
      Und wieder stehst du in der offnen Pforte, 
      und meine Seele loht in lichtem Feuer. 
      (S. 43) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Es gleisst die Luft im heissen Mittagsschweigen. 
      Wir sind der Stille sehr willkommne Gäste. 
      Wir lieben beide ihre heil'gen Feste. 
      Sie will uns ihre schönsten Schätze zeigen. 
       
      Es klingt Musik von unsichtbaren Geigen 
      durch grüne Bäume moosbedeckte Äste. 
      Von ihren Früchten gibt sie nur das Beste, 
      ganz leise schüttelnd an den schweren Zweigen. 
       
      Der Vorhang zittert leicht im Hauch der Lüfte, 
      und fremde, feine, unbekannte Düfte 
      verbreiten wunderbare Seligkeit. 
       
      Sie hat die Schwere ganz von uns genommen, 
      und für die Erde sind wir nun vollkommen. 
      Und tiefe Stille. - Friede. - Hohe Zeit. 
      (S. 44) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Du bist verworrner als des Meeres Rauschen, 
      geheimnisvoller als der Winde Wehen. 
      Ein fremdes Etwas ist in deinem Gehen. 
      Du zwingst das Schweigen, deinem Schritt zu lauschen. 
       
      Du bist ein Ton im hohen Wälderrauschen, 
      der hohe Ton, den wir noch nicht verstehen. 
      Bist du Erfüllung? - Oder bist du Flehen? 
      Ist deine Seele nicht ein ew'ges Tauschen? 
       
      Denn übermächtig blicken deine Augen, 
      aus denen alle Wesen Liebe saugen, 
      und tiefe Stillen stehen um dich her. 
       
      Es späht der Abend lang nach dir herüber. 
      Du aber wandelst märchenstill vorüber 
      und neigst dein Haupt und bist von Liebe schwer. 
      (S. 45) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In dieser Landschaft schau ich deine Seele: 
      Wie jugendlieblich lebt's im Vordergrunde, 
      es badet sich im See die Morgenstunde, 
      dass neu die Welt dem Lichte sich vermähle. 
       
      Seeüber hallt ein Lied aus Vogelkehle, 
      das Echo lispelt schelmisch in die Runde. 
      Durchsichtig sind die Fluten bis zum Grunde 
      und klar und lieblich, ohne Schuld und Fehle. 
       
      Im Hintergrunde hängt ein duft'ger Schleier. 
      Dort hält die Schönheit ew'ge Liebesfeier, 
      die unfassbare, tiefe Schweigerin. 
       
      Ein Windhauch bringt den Schleier in Bewegung. 
      Ich sehe hin in seliger Erregung, 
      und dunkel ahn' ich ihren hohen Sinn. 
      (S. 46) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Der Tag ging ruhig, wie ein Greis zu Ende. 
      Wir sassen schweigend bei dem Abendmahle, 
      und Stille war in unserm kleinen Saale. 
      Das Zwielicht rann gedämpft um unsre Hände. 
       
      Da brach es unaufhaltsam durch die Wände 
      und war nun zwischen uns mit einem Male 
      und bot uns lächelnd eine volle Schale 
      und gab und sprach: Nun trinket ohne Ende! 
       
      Ihr trinkt mein Blut, der Erde Grund entronnen, 
      das leuchtend quillt und pulst in fernen Sonnen. 
      Fühlt ihr noch nicht, wie's in euch wogt und fliesst, 
       
      den Endlichkeitsgedanken leis vernichtend 
      und zu Unendlichkeiten euch verdichtend? 
      Ihr trinkt mein Blut, das kühl und ewig ist. 
      (S. 47) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      
      Heilige Stunde 
      
      Ich lud dich auf des Abends stille Stunde 
      als einz'gen Gast. Dann müssen rings auf Erden 
      die unzählbaren redetrunknen Munde 
      und alle Rufer stille werden. 
       
      Verklärt und leidenlos im Hintergrunde 
      verraucht der Tag auf kaltgewordnen Herden, 
      und in der Täler nachtbereitem Grunde 
      entschläft der Wind an seinen Traumgebärden. 
       
      Nun magst du nahen, magst vorüberkommen. 
      Was unrein war, das ist von dir genommen. 
      Nun bist du selber Abend, gross und still 
       
      und losgelöst vom dunkeln Umgelände 
      und stehst vor mir und faltest deine Hände 
      wie eine, die sich offenbaren will. 
      (S. 48) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      
      Das Tanzlied 
       
      I. 
      
      Von fern Musik, anschwellend, klar und rein. 
      Sie füllt mit ihren Stimmen alle Wälder, 
      schwebt über weiche Wiesen, goldne Felder 
      und trägt den Zauber auch in dich hinein. 
       
      Geniessend duldest du die süsse Pein. 
      Dass sie sich völlig nun mit dir vermähle, 
      durchdringt sie deine unberührte Seele 
      und wirkt in dir, wie schwerer, junger Wein. 
       
      Und unerlöst, wie hinter dunkeln Gittern, 
      wo eines neuen Lebens Hauch sie wittern, 
      die angespannten Glieder leise zittern. 
       
      Und plötzlich bricht der Wald sein banges Schweigen: 
      Im Takt der Töne sich die Zweige neigen. 
      Du atmest auf und du beginnst den Reigen. 
      (S. 49) 
      
      ____ 
      
      
       
       
      
      II. 
      
      Du schwebst im Takte seliger Gesänge 
      auf abendstiller Erde leicht dahin 
      als wär kein Wesen sonst seit Anbeginn 
      und tief in deiner Brust erbrausen Klänge. 
       
      Doch nie verirrst du dich in ein Gedränge. 
      Du bist allein. Du bist die Welt, der Sinn! 
      Du bist der Rhythmus! Du bist Königin! 
      Du bist Bewegung, Schönheit und bist Menge, 
       
      und deine Füsse haften nicht auf Erden. 
      Es lebt das All in deinen Handgebärden! 
      Du bist für jedes Ding das trunkne Ohr. 
       
      Zum Himmel hast die Blicke du gerichtet, 
      und alle Werke sind für dich gedichtet, 
      und deine Seele jubelt: Auf! Empor! 
      (S. 50) 
      
      _____ 
      
      
       
       
      
      III. 
      
      Ermattet sinkst du auf die Erde nieder, 
      zu weit ins Blaue sich dein Blick verlor. 
      Noch immer liegt der Klang dir tief im Ohr, 
      und die Musik im Herzen hebt sich wieder. 
       
      Aufs Neue ist gelöst der Bann der Glieder, 
      und deine Lichtgestalt schwebt wie zuvor, 
      nur stiller, ruhevoller durch das Tor 
      der nahen Nacht, geschmückt mit duft'gem Flieder. 
       
      Gelassen ziehst du deine ew'gen Kreise 
      dahin, dahin auf unsichtbarem Gleise, 
      allmählich tauchest du im Schatten ein. 
       
      Die Füsse wollen ihren Dienst versagen 
      und wollen deinen Körper nicht mehr tragen - 
      Du fühlst es plötzlich: Grenzenlos allein ... 
      (S. 51) 
      
      _____ 
      
       
       
      
      IV. 
      
      Zum leisen Schreiten wandelt sich dein Tanz, 
      und zögernd kommen auf des Feldes Mitte 
      zum Stillstand deine plötzlich schweren Schritte. 
      Auf deiner Stirne ruht ein fremder Glanz, 
       
      und um dein Haupt ringt sich ein Dornenkranz. 
      Dein Auge starrt, wie wenn es Schmerzen litte. 
      Es ist, als ob von deiner Schulter glitte 
      das Kleid der Freude, und als ob sie ganz 
       
      dich fliehen wollte und dich stumm verlassen 
      und treulos weiterwandern weisse Strassen, 
      und welke Trauer schleicht sich in dein Herz - 
       
      Das ew'ge Schicksal hast du vorempfunden, 
      und duldend trägst du seine roten Wunden 
      und neigst dein Haupt und bist auch gross im Schmerz. 
      (S. 52) 
      
      _____ 
      
       
       
      
      V. 
      
      Und wieder klinget eine Saite an, 
      nur leise, tief von innen, schmerzdurchlebt, 
      und deine qualerfüllte Seele bebt 
      und richtet ihre Blicke himmelan. 
       
      Und weiter trägt auf vorgeschriebner Bahn 
      dein Fuss dich hin. Und deine Seele hebt 
      den armen Leib, dass er mit ihr entschwebt, 
      und nicht mehr fühlest du den dumpfen Wahn, 
       
      der dich an diese dunkle Erde kettet, 
      mit Steinen in das gleiche Grab dich bettet -: 
      Du flügelst auf aus kaltem Mutterschoss, 
       
      des Erdreichs dumpfe Schwere überwindend 
      und mit dem Urgeist deinen Geist verbindend 
      und schwebest selig, aller Fesseln los. 
      (S. 53) 
      
      _____ 
      
      
       
       
      
      VI. 
      
      Mit einem Sinn, der über allen Sinnen, 
      empfindest du des Lebens dunkles Sein. 
      Nichts ist mehr aussen, alles flutet innen, 
      mit vollen Eimern tief in dich hinein. 
       
      Und neugestärkt, verklärter, stumm beginnen 
      die Füsse ihren alten, ew'gen Reih'n. 
      Die blauen Fernen leis vorüberrinnen, 
      es spiegelt sich in dir des Himmels Schein. 
       
      Es ruht in dir das Fernste, Längstvergangne, 
      von Geisteskräften mächtig Eingefangne 
      in einer Fülle, die du selbst nicht weisst, 
       
      die, aufgerufen, sich verhundertfältigt, 
      und plötzlich rufst du, gross, doch überwältigt: 
      "Nun bin ich Frucht! Empfange meinen Geist!" 
      (S. 54) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      
      Lieder der Liebe 
      
      Meiner Fülle trunken schwebte Gott durch die Räume 
      und schuf seiner Werke wunderbare Gebilde. 
      Glühende Sonnen entwanden sich seinen Händen, 
      und kalte Erden rollten zu seinen Füssen, 
      brausende Meere griffen nach seinem Kleid. 
      Und es zitterte vor Erregung Gott-Schöpfer, 
      und seine ungeheuren Stillen schollen von seinem Gesang. 
      Und war ein Hymnus erhaben und weltgewaltig. 
      - - - - - - - - - - -- - - - - - - - - - - - - - - - - - -  
      Und als seine Stimme sich endlich im Raume verloren 
      und ihn die eherne Stille wieder umfing 
      und seine Werke lagen wie Steine und Leichen: 
      "Lebt denn niemand als ich" rief er 
      und riss aus der Brust mich, sein jubelndes Herz. 
      Rot quoll mein Blut, und Schöpfers Hände rauchten, 
      und er träufelte meine rauchenden Tropfen 
      allen Geschöpfen verbundenen Auges ins Herz. 
      Und Flammen schlugen aus Kohlen und Asche. 
      Und überall Atmen! Und Blühen! Und Leben! - 
      Und mir der Schmerz. - Es blutete meine Seele 
      und ringt seit Ewigkeiten nach all ihren Gliedern 
      und schreit vor Lust, findet sie einmal nur 
      in der Brust eines Geschöpfes ihre leuchtende Kraft 
      ihr entgegenglühen. Leiser dann fühl ich den Schmerz, 
      ist mir doch, als hätt ich mich selber gefunden. 
      Ich suche mich unermüdlich in allen Dingen. 
      Ich bin die Seele aller Dinge. 
      (S. 55-56) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich bin die Seele aller Dinge. Ich bin die Liebe. 
      Ich lebe dunkel in den Wurzeln der Bäume. 
      Tief in der Erde bin ich das glühende Feuer. 
      Ich bin im Hauch der Lüfte 
      und im Rauschen des Meeres. 
      In den Menschen bin ich das singende Blut. 
      Ich fahre dahin im Kleide der Morgenröte. 
      Des Abends müde Trauer ist meine Trauer. 
      Die Sonne nenn ich Schwester 
      und die Sterne Brüder. 
       
      Ich bin überall. 
      Ich bin die Seele aller Dinge. 
      (S. 57) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich bin die Sehnsucht aller Dinge. 
      Gefesselt starr ich aus den Stirnen der Berge. 
      Laut und gewaltig tön ich aus brandenden Meeren. 
      Unruh der Name meines Tempels. 
      Unruh die flackernden Lichter meiner Altäre. 
      Unruh im Murmeln meiner quellenden Bronnen. 
      Nacht - ist mir Tod. Sonne heisst meine Sehnsucht! 
      Aus der Tiefe der Erde bet ich um Sonne. 
      Aus Kinderaugen schaue ich aus nach Sonne. 
      Des Menschen letzes Beten heisst Sonne - - 
      Ich bin die Sehnsucht aller Dinge. 
      (S. 58) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Sahet ihr meine Brunnen nicht überfliessen 
      in heissen Sommernächten? 
      Hörtet ihr meine Stimme nicht 
      im Ruf eines Tieres, das zur Tränke ging? 
      Fühltet ihr mich nicht zittern in eurem Leibe, 
      ihr Einsamen unter den Menschen? 
      Lag ich nicht dunkel wie Träume in eurer Seele? - 
      Sahet ihr nie im Überschwang meine Seele: 
      Fallen als Sterne durch nächtliche Tiefen 
      zu liebeglühenden, einsamen Sternen? 
      (S. 59) 
      
      ____ 
      
       
       
       
      Ein Verkünder bin ich dem Einsamen unter euch, 
      dem Rätsellöser, dem Tiefensucher. 
      Ich führe ihn über hohe Berge und schmale Täler. 
      Ich hebe den Vorhang vor seinen Augen: 
      Er schaut die Rätsel, in Schweigen gehüllt und ewige Schönheit. 
      Und ich stille die Lust seiner Suchbegierde. 
      Er verlangt nicht mehr den Schlüssel der letzten Tore. 
      Er ahnt und fühlt der Geheimnisse tiefen Sinn - 
      Und was ist seliger als Ahnen und Fühlen? 
      (S. 60) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ein Dichter und Harfner bin ich allen Liebenden. 
      Sie öffnen mir willig ihre stillen Gemächer. 
      Sie horchen lange auf meine nahenden Schritte. 
      Ihren Seelen bin ich der Gast der Gäste. 
      Von meinen Liedern lassen sie sich berauschen. 
      Ich führe sie an die Ufer stiller Wasser 
      und fahre sie zu den Inseln der Seligen. 
      In dumpfen Nächten wach ich an ihrem Lager. 
      Glück leuchtet mir ihrer Augen Glanz. 
      Ich liebe die Liebenden. 
      Ein Dichter und Harfner bin ich allen Liebenden. 
      (S. 61) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Aeonen denk ich zurück 
      an meine tiefversunkene grosse Jugendzeit. 
      Seliges Dasein, als ich dir nahe war. 
      O Gott, ganz allein! 
      Dein mit allem!  
      - - - - - - - - -  
      Da, als du aufgingest in deinem Beruf 
      und, o Erbarmer, deine Seele 
      hingabest an alle Dinge, 
      da lag ich dunkel in ihnen und unbewusst 
      und kreiste um dich und wusste nicht, 
      wo du warest 
      und hatte tiefe Sehnsucht nach dir. 
       
      Atome verband ich zu Molekülen. 
      Mit unzähligen Händen griff ich um mich 
      und wand mich und fieberte und litt. 
      Nach Bewusstsein rang ich und formte 
      und bildete 
      und warf mich in neue Gewande. 
      Und fühlte, wie es sich hob über mir 
      und ahnte eine verheissende Wärme. 
      Da ward ich Stein und empfand 
      über mir eine wohlige Leichte. 
      Doch immer noch rissen zu meinen Füssen 
      Ketten von grosser Schwere und hielten mich nieder. 
      Und ich zerbröckelte und ward Erde und fuhr auf 
      im Atem des Windes und ward Pflanze 
      und wuchs und wuchs. 
      Nach oben zog's mich. Ich musste! Ich musste! 
      Da gab ich meiner Sehnsucht eine Stimme: 
      Im Schrei eines Tieres erzitterte ich! 
      Ich fühlte, wie meine Ohnmacht schwand. 
      Da rang ich heisser und verfeinerte meine Sinne: 
      Da ward ich Mensch! 
      Tag neuen Lebens! Güldene Morgenröte! 
      Welch ein Gefühl in mir! 
      Welch fremdes Wogen! 
      Schweigen ringsumher 
      und grenzenlose Einsamkeit. 
       
      Still! Rief da nicht eine Stimme? 
      Wieder und wieder! 
      Meine Finger dehne ich wund. 
      Meinen Willen rufe ich auf. 
      Leere Räume fassen meiner Kehle Laut: 
      Wo bist du? - Wo bist du? - - 
      Und zurück hallt's wie das Echo meiner eigenen Stimme 
      und auseinander tritt der Raum. 
      Auftut sich ein Meer. 
      Dort, dort, aus Wellentiefen, 
      schillerndgrünen, hebt sich's empor: 
      eine Hand, ein Arm, marmorweiss. 
      Leuchtende Augen zwischen flutendem Haar. 
      Wie hebt sich die Brust! 
      Wie ringt sie nach Atem! 
      In ihrem Munde erstirbt ein Schrei! 
      Schrei eines Weibes! 
      Kraft gibt mir die Sehnsucht! 
      Mein Wille wird Tat. 
      Meine Arme breit ich aus. 
      Ihre Arme hebt sie empor. 
      Nach weissen Händen will ich greifen. 
      Mir entgegen hält sie ihre Hände. 
      Schauer der Berührung! 
      Du Mann! Du Weib! 
      Erfüllung ist nahe! 
      Umfangend umfangen. 
      Wer bist du? Wer bin ich? 
      Aufgelöst. Ein Leben! 
      Wir! Wir! 
      Was klingst du so schwer, meine Sprache? 
      Licht wird alles um uns. 
      O Sonne, o Sehnsucht! O all ihr Dinge! 
      In eure Wirrung schau ich einmal bewusst. 
       
      Ermattet sink ich zurück. 
      Ab fällt mein Kleid. 
      In neue Gewande muss ich mich werfen. 
      Verwandelt kehre ich wieder. 
      Stetes Zerstören! 
      Ewiglich Bauen! 
      Zerschellen muss diese Erde 
      und hindonnern an glühender 
      Sonnen Küsten! 
      Glut muss ich werden 
      und Feuer und Geist, 
      ganz Geist. 
      Dann, o Gott! sind alle Dinge wieder dein. 
      Dann darf ich wieder dein sein mit allem. 
      O komm! 
      Du Langersehnte! 
      Du Allesstillende! 
      Du meine zweite, ewige Jugendzeit. 
      (S. 62-65) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Schlafe, schlafe, o Welt! 
      Leise nahet die Nacht, 
      alles Sehnen ist still 
      und erfüllet die Zeit. 
       
      Schlafe, schlafe, o Mensch! 
      Was schreist du auf aus den Träumen? 
      Seele, fürchte dich nicht! 
      Siehe, ich trage die Welten, 
      in mir glüht euer Schmerz, 
      so, mit allen verwachsen, 
      sink ich dem Schöpfer ans Herz. 
       
      Höre: der Ew'ge ist gut 
      wenn wir ihn auch nicht erkennen. 
      Glaube: wenn wir verbrennen, 
      verglüht er sein eigenes Blut! 
      Leise lächelst du schon, 
      denkst: was wäre ein Gott, 
      der sich erschaffen zur Qual, 
      zu leiden unselige Not? ... 
      Nein, er schuf sich das Glück! 
      Ohne Frieden und Ruh, 
      ohne Freude und Glanz 
      wäre denn Gott auch nicht Gott. 
       
      Schlafe, schlafe, o Welt! 
      Alles Sehnen ist weit. 
      Still ist jeglicher Mund, 
      erfüllet die Zeit.  
      (S. 66-67) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Das Lied der Seele 
      
       
      Und weiter ging ich meines Weges 
      bis an einen Ort, 
      darin zwölf Strassen mündeten. 
      Das hielt ich inne. 
      Denn ich wusste nicht, wohin. 
      Und inmitten der Kreuzung 
      stand eine weisse, verhüllte Gestalt 
      (war's meine Mutter, die ich kaum gekannt?) 
      und erhob ihre Hand 
      und sprach: 
      Was zauderst du, mein Kind? 
      Gehe, wohin du willst: 
      Es sind alles Pfade der Liebe. 
      (S. 71) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Zum Campo Santo lenk ich meine Schritte. 
      Unruhig Herze, komm, was zögerst du? 
      Die Gräberreihen atmen tiefe Ruh, 
      und leis verhallen meine harten Tritte. 
       
      Ein grüner Hügel wölbt sich in der Mitte. 
      Ihm wenden sich die müden Blicke zu. 
      O sag! Wen birget deine dunkle Truh'? - 
      An starren Steinen starb die scheue Bitte. 
       
      Da ging ein Schluchzen hoch in den Zypressen. - 
      Mein totes Kind! Ich hab dich nicht vergessen! 
      Zeig mir dein stilles, sel'ges Jugendland! 
       
      Weit in die Stille rief ich deinen Namen - - 
      und aus der Tiefe kam es: Amen, Amen! 
      Da fühlt ich dunkel deine kühle Hand. 
      (S. 72) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Wie ist es stille worden nun im Haus. 
      Die Stiege, wo wir liebesbang gelehnt, 
      die Brüstung, wo du manchmal mich ersehnt, 
      sie schauen ungeduldig nach dir aus. 
       
      Und wo der Garten führt zum See hinaus 
      und wo die Woge an das Ufer lehnt, 
      da hat die Nacht zu finden dich gewähnt, 
      das Tor dir öffnend ihres Tempelbaus. 
       
      Es harrt die Abend-, harrt die Morgenröte, 
      ob deine weisse Hand sich ihnen böte. 
      O, wie wir alle harren, fern und nah! 
       
      Nur manchmal quillt ein Licht im Dunkel-Düstern, 
      und durch die Binsen geht ein leises Flüstern 
      zum Ufer hin, als wärest du noch da. 
      (S. 73) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Warum? Warum? - O Irrung der Natur! 
      Mein Herze kann und will es noch nicht fassen 
      und hadert wild mit Gott in bittrem Hassen: 
      Missachtest also du der Kreatur, 
       
      die du erschufst! Die gottgedachte Spur 
      zerstörst du wieder, schlägst in Scherbenmassen 
      der Dinge höchste, wie der Töpfer Tassen! - - 
      Da - als ich deine dunkle Tat erfuhr, 
       
      da war's, als würde mir die Brust zerrissen. 
      Aufschrie ich aus den blut'gen Finsternissen, 
      und meine Sprache war ein Fluch und Hohn - 
       
      Denn furchtbar, Gott, sind deiner Hände Werke, 
      und schmerzvoll groll ich deiner grimmen Stärke, 
      wie seinem Vater ein erzürnter Sohn! 
      (S. 74) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Es klärt sich meiner Seele trüber Schmerz, 
      und dass ich Gott in schicksalsschweren Stunden 
      Verantwortung für Leiden auferbunden, 
      darin er qualvoll zittern liess mein Herz: 
       
      ich tat nicht recht. Denn Leiden allerwärts 
      an Tier und Mensch sind ja auch seine Wunden; 
      denn wir sind Glieder, die sich um ihn runden, 
      und unsre Wehen sind auch ihm zum Schmerz. 
       
      Und kleinlich fühl ich mich vor seiner Grösse, 
      und ich empfinde meine ganze Blösse, 
      erblick ich seine Hände, blutigrot, 
       
      und seine Schultern mit unzähl'gen Narben 
      und alle Dinge, die stumm an ihm starben - - 
      O Last und Weh der Welt! - Wie leidet Gott! 
      (S. 75) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Der Frühling duftet über meine Welt. 
      Du stillgewordne Seele, mach dich auf! 
      Mein Fuss trägt mich den steilen Berg hinauf, 
      darauf der Himmel seine Hände hält. 
       
      Da bist du, abgelegne, kleine Welt. 
      Du Ackerland, zu dir hin ging mein Lauf! 
      Wie blühen Blumen, Blüten schon zu Hauf! 
      Der ganze Hang ein Auferstehungsfeld! 
       
      Mein Auge trinkt. Den Atem halt ich an. 
      Da blüht ein Veilchen. Dort ein Enzian; 
      aus allen Blumen redest du zu mir. 
       
      Aus allen Blüten wind ich einen Kranz: 
      Mein totes Kind! Ich hab dich wieder ganz! 
      Ich lebe und du lebst! Ich danke dir! 
      (S. 76) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Und manchmal hab ich Sehnsucht nach dem Land, 
      dahin dich trug der dunkle Genius, 
      nachdem er dich berührt in heil'gem Kuss 
      und von dir nahm das menschliche Gewand. 
       
      Und wie ein Horcher heb ich meine Hand, 
      und deutlich hör ich unter mir den Fluss, 
      auf dem auch ich hinüberfahren muss, 
      und neig mich über meines Bootes Rand 
       
      und sehe ferne schlanke Flammen rauchen 
      und eine Insel aus dem Qualme tauchen, 
      und stiller rollt das Blut durch meinen Leib. 
       
      Das Hohelied erbraust durch nächt'ge Feuer. 
      Ich stehe ruhig-fest an meinem Steuer: 
      stromüber leuchtet mir ein herrlich Weib. 
      (S. 77) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Willkommen, heil'ger Schmerz, in meinen Hallen. 
      Du strenger Priester flammenreiner Liebe! 
      Du Tilger aller lebensschwachen Triebe, 
      die dumpf und tief in allen Wesen wallen. 
       
      Komm über mich! Lass fühlen mich die Krallen! 
      Und wo ich schlecht bin, gönn mir deine Hiebe. 
      Ich weiss, du tust's aus unbegrenzter Liebe, 
      die dich verbindet den Geschöpfen allen. 
       
      Was unrein war in mir, schlugst du zu Scherben. 
      Du liessest mich schon tausend Tode sterben, 
      durchglühtest mir mit Flammenglut das Herz. - 
       
      Doch sieghaft fahr ich noch im Lebenswagen: 
      Ich habe deine ganze Last ertragen - 
      und kommst du wieder, sei willkommen, Schmerz! 
      (S. 78) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Dich, selt'ne Stunde, segne ich vor allen, 
      die du mir nahst, wenn stumm der Tag verblich 
      und all die wirre Hast entschlief in sich, 
      und ungestört die nächt'gen Schleier wallen. 
       
      Dann schreitest du aus deinen ernsten Hallen 
      mit kühlem Mund und still und feierlich 
      und stattest mir zurück mein eignes Ich, 
      das mir im lauten Lärm des Tags entfallen 
       
      und gibst die Kraft mir, weit mich wegzuheben 
      aus diesem ungestillten, halben Leben 
      und öffnest mir die Tür zu einer Welt 
       
      jenseits von Gut und Böse dieser Erde 
      und lädst mich ein mit lächelnder Gebärde 
      und duldest mich, so lang's dir wohlgefällt. 
      (S. 79) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Dein Antlitz, Abend, kann ich nicht vergessen. 
      Du bist verdammt, urtief in mir zu leben; 
      denn alles muss mir seine Seele geben, 
      was ich nur einen Augenblick besessen. 
       
      Ihr Wolken, Winde! Träumende Zypressen! 
      Ich will euch gerne stille Wohnung geben. 
      In meinem Innern mögt ihr weiterweben: 
      dies Reich ist weit und niemand wird's ermessen. 
       
      Und manchmal, Abend, wenn du still erscheinest 
      und in dein grauses Pilgerlinnen weinest: 
      o dann ergreif die dargebotne Hand! 
       
      Ob dunkler Schmerz auf deinen Lippen träumet, 
      ob Purpurröte deine Stirne säumet: 
      ich fühle mit, ich bin mit dir verwandt. 
      (S. 80) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich sah sie oft in Dörfern und in Städten 
      in scheuen Haufen durch die Strassen ziehn. 
      Als Menschenauswurf waren sie verschrien. 
      Sie wussten nichts von Wohlstand, Spitzenbetten. 
       
      Und viele trugen unsichtbare Ketten 
      und konnten ihrem Elend nicht entfliehn: 
      die Armut wollte sie darniederziehn 
      und schwer auf ihre harten Pritschen betten. 
       
      Und Kinder schrieen hungrig durch die Gassen, 
      die dumpfen Keller konnten sie nicht fassen, 
      und Elend quoll aus harten Fensterrahmen ... 
       
      Da kam der Tod. Er fühlte tief Erbarmen 
      und Ernte hielt er lange bei den Armen, 
      und manche Mutter nickte: Amen! Amen ... 
      (S. 81) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Der Blinde im 
      Frühling 
      Er schreitet langsam hin wie alte Frauen 
      mit welkem, abgewendetem Gesicht. 
      Kein Strahl das Dunkel seiner Augen bricht. 
      Er sieht nicht wie die Wolken Berge bauen. 
       
      Die Wälder grünen und die Himmel blauen: 
      den holden Farbenzauber spürt er nicht. 
      Und einmal doch wird seine Seele licht: 
      duftschwere Lüfte hauchen durch die Auen. 
       
      Da muss er seine kalten Arme heben 
      und ist den warmen Winden hingegeben 
      und duldet die Umarmung selig, stumm. 
       
      Und inniger die Lüfte ihn umfächeln 
      und bringen seinen starren Mund zum Lächeln 
      und sind ihm wie ein Evangelium. 
      (S. 82) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Es rauscht der Wald das Lied vom Vagabunden 
      hinüber in des Dorfes stumme Gassen. 
      Die lauten Zecher all den Krug verlassen 
      und ziehn zum Talgrund, wo man ihn gefunden. 
       
      Schneeweiss sein Angesicht! Zwei dunkle Wunden 
      verschwimmen kühl auf seiner Stirn, der blassen. 
      Daneben ein Papier: "Ein Kind der Strassen, 
      das heiss geliebt, gefehlt - und Reu' empfunden." 
       
      Und einer raunt: "Am Wegesrand verdorben!" 
      Er schlägt ein Kreuz und flieht zum Dorfe wieder: 
      "Kein Grab für den, der so den Tod geworben!" 
       
      Den Wald ergreift ein tiefes, wildes Weh, 
      und sacht, erbarmend auf den Toten nieder 
      senkt leis der Himmel seinen reinen Schnee. 
      (S. 83) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      In Augenblicken, grossen, übervollen, 
      die schweigend dunkle Tiefen offenbaren, 
      wo Dinge, die vor langen Zeiten waren 
      in wilder Sehnsucht wieder leben wollen 
       
      und ihre Bilder aus dem Schlummer rollen 
      und sich vermengen gegenwärt'gen Scharen, 
      die staunend in die graue Ferne starren, 
      wo neue Dinge sich enthüllen wollen -: 
       
      Da fühl ich tief Vergang'nes in mir weben. 
      Nachfühlend leb ich vorgelebtes Leben 
      und gehe auf in grosser Gegenwart 
       
      und ahne künft'ges Sein in fernen Winden: 
      Die Ewigkeit umspannet mein Empfinden, 
      von tiefster Stille leis geoffenbart. 
      (S. 84) 
      
      ____ 
      
       
       
       
      Der Abend öffnet seinen kühlen Garten 
      und Menschen wandeln seine breiten Wege 
      und steigen über moosbedeckte Stege, 
      wo stillgedämpfte Freuden sie erwarten. 
       
      Die müde sind von langen Wanderfahrten, 
      sie legen schlummernd sich in das Gehege. 
      Im fernen Dorf ist noch die Jugend rege, 
      und Kinder laufen durch den dunklen Garten. 
       
      Versteckt, aus halbverlorenem Lokale 
      hallt sanft Gesang von Seligen zu Tale, 
      verwehend unter kronenschweren Buchen, 
       
      indes ein Urgefühl die Brust mir weitet 
      und stumm mit mir den schwarzen Wald durchschreitet, 
      den grossen, unbekannten Gott zu suchen. 
      (S. 85) 
      
      
      _____ 
      
      
       
       
       
      Gedenke, Seele, deiner Blütenzeit! 
      Wie ist sie fern! Versunken und verklungen! 
      Ihr blauen Tage, o wie seid ihr weit! 
      Das Lied der Frühe, es ist ausgesungen! 
       
      Es hat der Sturm die Blätter mir zerzaust, 
      wild durch die Lüfte hat er mich geschwungen. 
      Wie gell er durch den Lebensbaum gebraust: 
      mich zu bezwingen ist ihm nicht gelungen. 
       
      Ich wuchs und durfte reifen, Tag um Tag. 
      Weiss ich, wie dieses Dasein enden mag? 
      Genug! Ich reife auf des Lebens Flucht. 
       
      Der Sommer ging. Still tritt der Herbst ins Land ... 
      Und manchmal fühl ich eine kühle Hand - 
      Wer will dich ernten, herbe Frucht? 
      (S. 86) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Das weiss ich, Seele: Bist kein leerer Schein, 
      doch sage, bist du also hochgestellt, 
      du: das Bewusstsein einer ganzen Welt? 
      Und du der Mittelpunkt von jedem Sein? 
       
      Wahrst du nicht allen Schmerz in deinem Hort? 
      Wär ohne dich nur eines Vogels Flug? 
      Du bist der Schöpfung innerer Bezug. 
      Du bist das Gottgewissen, bist das Wort. 
       
      Ich fühl es tief. Der Seele Saiten tönen 
      ganz rein. In diesem Augenblick versöhnen 
      sich Welt und Geist. Der Friede ziehet ein. 
       
      Erfüllung will sich in das All ergiessen. 
      O stille Zeit! O seliges Zerfliessen! 
      Hört nun das Leben auf zu sein? 
      (S. 87) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Mein Schatten folgt mir durch der Wälder Gassen. 
      Die Bäume sehen aus wie Menschgestalten, 
      die mir die Zweige stumm entgegenhalten, 
      als wollten sie mit Armen mich umfassen. 
       
      Es dulden meinen Schritt die weissen Strassen, 
      die von des Tages Gluten leis erkalten. 
      Ich seh die Nacht die dunklen Hände falten, 
      und ihre dunkeln Hände muss ich fassen. 
       
      Und Liebe strömt aus allen Erdendingen! 
      Die grosse Liebe will mich niederzwingen. 
      Aus stillen Gründen steigt das tote Gestern, 
       
      und Heut und Morgen will sich mir verbünden 
      und ihre Stimmen hör ich leis verkünden: 
      Sind wir nicht alle Brüder, Freunde, Schwestern? 
      (S. 88) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Des Himmels grauer Vorhang ist geschlossen. 
      Der Hof der Toten öffnet mir die Türen, 
      die mich ins Reich der Abgeschiednen führen. 
      Von Stille sind die Steine übergossen. 
       
      Und aus der Tiefe kommt es leis geflossen - 
      Unsichtbar kalte Hände mich berühren, 
      den Atemzug Gestorbner kann ich spüren 
      und dunkel hat ein Traum sich mir erschlossen: 
       
      Ein Toter sprengte seine engen Wände 
      und reichte mir die fleischlos harten Hände. 
      Doch seinem Mund entrann kein einzig Wort. 
       
      Nur seine Augen hielt er aufgeschlagen 
      und seine ew'gen Augen wollten sagen: 
      wir sind verkettet alle, hier und dort. 
      (S. 89) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ein Wandrer schreitet durch die Einsamkeiten, 
      in vollen Wäldern bleibt er sinnend stehen. 
      Er lauscht des Windes abgeriss'nem Wehen 
      und kann wie andre nicht vorüberschreiten 
       
      an diesen träumerischen Wirklichkeiten, 
      darin verborgen viele Quellen gehen. 
      Ihn zwingt sein Geist, hinauf-, hinabzusehen 
      und hinzuschweifen in die blauen Weiten 
       
      und, während schon die ersten Sterne winken, 
      zu spähen auf der Abende Versinken, 
      als wär er ihrem Dunkel nah verwandt 
       
      und in den ausgespannten Schattenkühlen 
      die Wiederkehr der Dinge mitzufühlen -: 
      Einsamer Freund, ich habe dich erkannt. 
      (S. 90) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Allmächt'ge Stille! Meer erschwieg'ner Leben! 
      Zu meinen Füssen deine Fluten blinken, 
      und schlanke Hände aus der Tiefe winken, 
      die unbrechbares Schweigen um sich weben. 
       
      Nach deinem Eingang alle Ströme streben. 
      In dir muss jeder Lärm und Laut ertrinken. 
      In dich die grossen Abende versinken, 
      dir stumm und willenlos anheimgegeben. 
       
      Ein dunkler Nachen fährt an mir vorüber. 
      Ein Winken mit der kühlen Hand: "Hol über!" - 
      Ich fahr dahin. Um mich Versunkenheit. 
       
      Gibt's denn in dieser Stille keinen Rufer? - 
      Kein Hauch, kein Laut. Und nirgendwo ein Ufer: 
      Ich fahr dahin. - Es schwinden Raum und Zeit. 
      (S. 91) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich schaue lang in dämmerblaue Weiten, 
      und meine Seele ist so voll von Dingen, 
      die sehnsuchtsvoll mein Inneres durchdringen 
      und ihre Arme dehnend nach mir breiten. 
       
      Die Wolken, die stillhoch vorübergleiten, 
      des Windes Lieder, die herüberklingen, 
      die schweren Wälder fester mich umschlingen: 
      es bannen mich mit Macht die Wirklichkeiten, 
       
      die mich in ihren schweren Mantel hüllen 
      und mich mit ihrem Wesen ganz erfüllen, 
      mir leise raubend den bewussten Sinn - 
       
      Doch quillt es manchmal auf in meinem Innern 
      und will mich seltsam kühl daran erinnern 
      mit abendstillem Ruf, dass ich noch bin. 
      (S. 92) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Ich bin so tief in mich zurückgekehrt, 
      dass ich den schweren Leib nicht mehr empfinde. 
      Ich bin ein Baum geworden ohne Rinde, 
      ich bin ein Stein, des Erdgewichts entschwert. 
       
      Der Wolke gleich, die sich im Meere nährt 
      und dann hinschwebt im Atemzug der Winde, 
      als Regen niederfällt in tote Gründe 
      und dann als Woge über Meere fährt: 
       
      so frei schwebt nun mein Geist hoch über Erden, 
      allmächtig, irgend ein Geschöpf zu werden, 
      in Formen sich zu hüllen, die schon tot - 
       
      Empor mein Geist! Wirf ab die Menschenhülle! 
      Stürz jauchzend in die hingeworfne Fülle! 
      Ergreif den Mantel dort! Mensch! Werde Gott! 
      (S. 93) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      O Welt mit deinem unerforschten Gründen, 
      mit deinem Reigen, deiner tiefen Stille! 
      Du Traumgemach für Gottes Schöpferwille, 
      daher wir kamen und dahin wir münden! 
       
      Wie vielgestaltig kannst du dich verkünden! 
      O süsses Raunen! Steigendes Gequille! 
      Vom Vogelsang bis zum Gezipp der Grille 
      will alles daseinsfreudig sich entzünden. 
       
      Und ich inmitten dieser Lebenswogen, 
      bald abgestossen und bald angezogen, 
      wie mich das All durch seine Räume reisst! 
       
      Ist es ein Trug, der mir die Sinne blendet? 
      Ist's möglich, dass das Dasein nimmer endet? 
      Glühst du im Wunsch, du trunkner Geist? 
      (S. 94) 
      
      _____ 
      
       
       
       
      Es naht die Nacht mit schlummerschweren Winden 
      und löscht die Lichter aus im weiten Land. 
      Auf heisse Schläfen legt sie sacht die Hand 
      und lässt die müden Augen sanft erblinden. 
       
      Und allen Dingen will sie sich verbinden 
      und deckt sie zu mit ihrem Traumgewand, 
      und Stille giesst sie lautlos in den Sand, 
      und tiefer dunkelnd alle Ufer schwinden. 
       
      Der ungebrochnen Stille hingegeben 
      erlischt der Dinge schlummertrunknes Leben; 
      sie sind nicht mehr und haben keinen Sinn. - - 
       
      Jetzt eben ward, von Gott zurückgenommen 
      in seine Brust, die stille Welt vollkommen - - 
      und ist so dunkel, wie von Anbeginn. 
      (S. 95) 
      
      _____ 
       
       
      
      
      Aus: Karl Stamm Dichtungen Gesamtausgabe 
      Erstes und zweites Tausend 
      Rascher & Cie. Verlag Zürich 1920 
      Erster Band (Hrsg. 
      Eduard Gubler) 
       
  
      Biographie: 
       
      
      http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Stamm    
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